Die Frau trägt einen großen Kopfhörer auf den Ohren und lächelt. In sich versunken, von der Musik gebannt? Nein. Sie sieht mir in die Augen. Und lächelt. Auf einer Seitenstraße Nähe Mehringdamm, ruhiger als die zwar verkehrsberuhigte, aber ansonsten immer noch trubelige Bergmannstraße. In den letzten drei Minuten kam mir niemand entgegen, und, ein kurzer Blick über die Schulter beweist es, hinter mir läuft auch niemand. Sie muss also mich meinen. Ich mustere sie, während sie näher kommt. Kennen wir einander?
Doch ich habe ihr Gesicht noch nie gesehen. Hätte es mir gemerkt, es ist ein Gesicht mit Tausenden von Sommersprossen. Ihre Brille hat winzige Gläser. Sie hält die Schultern so gerade, wie ich es mir immer vornehme, und darüber fallen schwarze Haare.
Mir bleibt jetzt nur eines zu tun: Das Lächeln erwidern!
Ihre aufrechte Haltung bewirkt, dass sie auffällt, obwohl sie nicht auffällig gestylt ist. Und eben dieses Lächeln. Mir bleibt jetzt nur eines zu tun: Es erwidern. Ihres wird noch etwas breiter, sie nickt mir kurz zu und geht an mir vorbei. Ich verkneife mir ein nochmaliges Umdrehen, straffe ein wenig die Schultern. Sehe geradeaus und am Ende der Straße Leute. Und habe eine Aufgabe: Ich muss, nein, darf es weitergeben, das Lächeln. Denn man sieht zurzeit so viele ernste Gesichter, vergrübelte, besorgte, verkniffene. Auch ich gucke, glaube ich, oft so. Ist ja auch kein Wunder.
Meistgelesene Artikel
Ein Wunder ist eher, dass ein freundlicher Blick eines fremden Menschen manchmal reicht, um die ganze Weltlage und die persönlichen Sorgen für einen Augenblick und länger von den Schultern zu schubsen. Um die Düsternis und die vielen kleineren Schlamassel in ein so schlichtes wie wirkungsvolles „Es wird schon nicht so schlimm werden“ zu verwandeln. Oder vielleicht sogar gut. In einer Weise, die man noch nicht erahnt. Weil auf dem Boden, auf den man zu viel guckt bei Niedergeschlagenheit, meistens keine helleren Zukünfte liegen.
Den Blick also gerade haltend, gebe ich mir einen Schubs und dem Typ mit der Schirmmütze, der mir als Erstes entgegenkommt, das Lächeln weiter. Sehe eine kleine Irritation und die Frage in seinen Augen, ob wir einander wohl kennen. Dann grinst er. Ich werde an diesem Tag noch etlichen Menschen kurz zulächeln und einige Male wird es erwidert werden. Und wenn nur ganz wenige von ihnen finden, das Lächeln weitergeben zu müssen, ist das eine Art Schneeballsystem, nur wärmer. Oder ein Kettenbrief ohne Buchstaben. Die braucht es nicht. Es braucht überhaupt manchmal nur sehr wenig.