Stadtflucht: Warum sich junge Berliner am Spreewald ein altes Haus gekauft haben
Sie liebten Berlin, die Clubs, die Kneipen, die Subkultur. Trotzdem siedeln sie nun vom wilden Friedrichshain in die Stille Brandenburgs um.

Es gibt eine Sache, die wirklich sofort auffällt: diese Ruhe. Das Grundstück mit dem alten Haus befindet sich mitten in einem kleinen Ort, etwa eine Autostunde südlich vom Berliner Alexanderplatz. Das Gehöft ist zwar nicht vorn an der Hauptstraße, aber recht zentral. Und doch ist es hier extrem ruhig. So hört sich Stille an.
Nichts vernimmt das Ohr. Gar nichts. Kein Grundrauschen der Großstadt: kein Straßenlärm, keine Müllwagen, keine Mopeds, keine Menschen, die reden oder lachen oder streiten. Eine Minute lang absolute Stille, zwei Minuten. Dann kräht in der Ferne ein Hahn.
Es ist kurz nach 9 Uhr, und in diesem Dorf nördlich des Spreewaldes ist es so still, als hätte der Tag hier schon seit Stunden Feierabend, dabei geht er erst richtig los. Auch für Victoria Müller und ihren Freund Max Threlfall. Die beiden Noch-Berliner sind inzwischen Fast-Brandenburger. Sie haben sich hier das Haus gekauft.
Die beiden Friedrichshainer steigen aus dem Auto und geben ihren beiden Hunden Auslauf. Die Luft ist kalt und klar. Die Wintersonne steht zwar noch tief und lugt nur durch die Äste der Bäume, aber sie blendet wunderbar frühlingshaft. „Ist das nicht magisch?“, fragt Max Threlfall und erwartet keine Antwort.

Ein Stück neben der Kirche gehen sie einen sanften Hügel hinauf. Dort steht ihr neues Haus, das 200 Jahre alt ist. Das Grundstück ist ein wilder Traum. Uralte Birken und Kiefern, Platz ohne Ende: 6000 Quadratmeter im Garten, 200 Quadratmeter im Haus, dazu zwei Scheunen. Victoria Müller erzählt, dass das Ganze knapp 190.000 Euro gekostet hat. „Dafür bekommst du in Berlin bestenfalls eine Einzimmerwohnung“, sagt die 34-Jährige.
Victoria Müller und Max Threlfall sind Stadtflüchtlinge. Sie sind Teil einer Gegenbewegung, die immer größer wird. Eigentlich ist der globale Trend seit mehr als einem Jahrhundert die große Landflucht: Immer mehr Menschen verlassen ihre Dörfer, lassen die harte Landarbeit hinter sich und suchen ihr Glück in immer größer werdenden Städten. Das Problem: Damit gehen alte gesellschaftliche Strukturen verloren, die über Jahrhunderte gewachsen sind, Häuser und Dörfer zerfallen und die Landwirtschaft findet beispielsweise kaum noch Menschen, die die Lebensmittel für die Städter produzieren wollen.
Eine Welt im Umbruch. Von einem Planeten der Dorfbewohner zu einem der Städter. Der Extremfall ist Tokio, die Megacity schlechthin: Dort leben 36 Millionen Menschen. Auch Deutschland leidet unter der Verstädterung: 1871 lebten 76 Prozent der Bürger in Dörfern, heute nun noch 17 Prozent.
Doch inzwischen gibt es eine neue Landlust. Eine Umfrage des Regionalportals meinestadt.de zeigt: Die 18- bis 31-Jährigen legen viel Wert auf Work-Life-Balance und 61 Prozent wollen lieber auf dem Land leben als in der Stadt. So wie die beiden Ex-Großstädter.
Dabei sehen die beiden überhaupt nicht nach Landleben aus, sondern unangepasst und unabhängig. So wie echte Großstädter, die gut in die Gegend rund um die Rigaer Straße passen: schwarze Klamotten, Tätowierungen; er mit Bart und gelben Gläsern in der Sonnenbrille, sie mit langen Zöpfen und Piercing. Echte Anti-Spießer. Und dann ziehen sie aufs Dorf?
Berlin war und ist für viele ein Ort der Träume, der Vielfalt und der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten. So war es auch für Victoria Müller und Max Threlfall. „Doch die Stadt verändert sich massiv“, sagt sie. „Da ist inzwischen schon einiges Mist. Wir sind damals in den Friedrichshain gezogen wegen der Subkultur, dem Punk, den Kneipen, den Clubs, so Kram halt“, sagt sie. „Wir waren schon da, bevor Zalando und Amazon kamen und der große Kommerz, der sich überall breitmacht.“
Die Zeiten ändern sich, und so wird Berlin für viele immer mehr zur Stadt der Unmöglichkeiten. Die Sache mit den Mietpreisen sei extrem, sagt Victoria Müller. „Einfach mal schnell umziehen, ist nicht mehr. Ich hab mal ganz allein in einer Drei-Zimmer-Wohnung gelebt, weil das viel billiger war als eine neue kleinere Wohnung.“ Sie erzählt vom Sterben der coolen Kneipen und dass ihr Lieblingsclub weggentrifiziert wurde.
Auch in Berlin werden die jungen Wilden älter, reifer und ruhiger. „Ich habe es früher echt krachen lassen, aber inzwischen bin ich offiziell in den Partyruhestand getreten“, sagt sie und lacht nicht mal dabei. Victoria Müller tritt ein Stück beiseite, um einen jungen Apfelbaum zu begutachten, dann geht sie ins Haus, holt Wasser und gießt den Baum, den sie im vergangenen Sommer gepflanzt haben. Ein Geschenk der Eltern von Max Threlfall. Sie sagt: „Ich komme langsam echt in ein Alter, in dem wir die Vorteile der Großstadt nicht mehr so sehr nutzen.“
Max Threlfall nickt. „In den dunklen Punk-Kellern sitzen und Sterni trinken, ist noch immer okay.“ Aber von diesen schönen dreckigen Kellerlöchern gäbe es immer weniger. „Und das muss auch nicht immer sein“, sagt er, „da gehe ich lieber in den Wald, fälle einen Baum und baue mir eine Terrasse.“

Sie idealisieren nicht mehr alles in Berlin, sondern sehen immer mehr auch die Veränderungen. „Die Scherben der Bierflaschen in unserer Straße haben uns nie gestört“, sagt Max Threlfall. „Aber jetzt mit den Hunden … Wir wollen uns nicht zu solchen Menschen entwickeln, die sich jeden Tag nur aufregen. Dann gehen wir lieber.“
Auch Victoria Müller sieht das als logische Entwicklung: „Nach uns kommen neue junge Leute, die das heutige Berlin ganz spannend finden.“ Sie schaut sich im Garten um, ruft nach Rambo, den Huskymischling, den sie aus dem Tierheim „adoptiert“ haben.
Berlin ist oft nur der Durchlauferhitzer für die Jugend, und Brandenburg wird immer mehr zum Auffangbecken, wenn die aufregende Zeit vorbei ist. Max Threlfall sagt, dass er Berlin noch immer gut findet. „Aber mir fehlt dort der Platz.“ Er erzählt, dass er quasi alles sammelt, was ihm gefällt. Er zeigt auf ein paar alte Einweck-Gläser, die er am Straßenrand gefunden hat. „Ich sammle auch altes Bonbonpapier, wenn es schön ist.“ Für so etwas sei hier Platz. Max arbeitet in Berlin als Fotograf, aber hier will er auch Bauer sein, will Tomaten ernten, will eine Werkstatt haben, einen Raum, in dem er Bilder malen kann. „Es geht um einen Ort, um sich zu entfalten.“
Es ist die zweite große Stadtfluchtwelle aus Berlin: Nach dem Mauerfall rückten vor allem wohlhabende West-Berliner an, aber auch Künstler aus Kreuzberg oder Prenzlauer Berg, die billige Grundstücke als Zweitwohnsitz kauften oder als kreatives Refugium. Die Einheimischen reagierten oft skeptisch. Neid war da im Spiel und Angst. Die Fronten verhärteten sich und nicht alle Wochenend-Brandenburger waren gern gesehen. Inzwischen hat sich die Willkommenskultur in Brandenburg vielerorts geändert. Den meisten ist klar, dass viele Dörfer nur mit Zuzug überleben.
Auch in diesem Dorf stand das alte Pfarrhaus eine Weile leer. Nun wollen Victoria Müller und Max Threlfall es erhalten. Der 34-Jährige steigt mitten im Garten die selbstgebaute Treppe zur selbstgebauten Terrasse hinauf, dann schließt er die Tür auf zu ihrem eigentlichen Zuhause hier: ein großer Bahncontainer mit Doppelbett, Kühlschrank und Küche. „Ist ein bisschen chaotisch“, sagt er. „Müsst ihr euch schöndenken.“

Er erzählt, dass sie den Wagen von einem Christen gekauft haben. Von dem stammt der Aufkleber an der Tür: „I love Jesus.“ Deshalb haben sie neben die Tür ein Schild aufgehängt und „Luci“ draufgeschrieben – Lucifer.
Er lehnt am Türrahmen, schaut auf den selbstgebauten Grill im Garten und sagt: „Ich habe hier über dem Feuer mein erstes eigenes Brot gebacken. Wir haben ums Feuer gesessen und für alle gekocht. Das war magisch.“ Magisch ist eines seiner Lieblingsworte, und er meint es ernst. Denn auch wenn es hier rau, wild und rumpelig aussieht, schreckt ihn das nicht etwa ab. „Max ist eine echte Outdoor-Maus“, sagt Victoria Müller und erzählt, dass sie im Urlaub meist mit dem Jeep unterwegs sind. „Vier Wochen Rumänien und Albanien und dann draußen schlafen“, sagt sie. „Das ist unser Ding.“
Das Berlin-Institut für Bevölkerung hat die Wanderungsbewegungen zwischen Stadt und Land untersucht: Bis etwa 2010 schrumpften 72 Prozent der Landgemeinden in Deutschland. Doch der Trend hat sich umgekehrt: Inzwischen ziehen in 62 Prozent der Dörfer mehr Leute hin als weg. Auch das Land Brandenburg verliert zahlenmäßig schon längst nicht mehr an Berlin: Nach 20 Jahren des Wegzugs wächst die Brandenburger Bevölkerung wieder: zuletzt um 25.000 Einwohner pro Jahr – drei viertel kommen aus Berlin. Und sie ziehen nicht nur in den Speckgürtel, sondern auch in die Peripherie. Der Hauptgrund sind die extrem steigenden Mieten in Berlin.
Max Threlfall öffnet die Hintertür des Hauses. Drinnen reißt ein Handwerker die Tapeten von den Wänden. Der erzählt, dass er auch mal in Berlin gelebt hat. Neben dem Tor baut ein Zimmermann gerade ein neues Dach auf die Scheune. Er erzählt, dass auch er zehn Jahre in Berlin gelebt hat. „Damals hat man überall wenig verdient, egal wo, da konnte man auch in Berlin leben und was erleben“, sagt er. „Doch irgendwann hatte ich die Nase voll von der Großstadt. Die Sturm-und-Drang-Zeit war vorbei“, sagt er.
„Viele Freunde von uns überlegen auch, ob sie aufs Land ziehen“, sagt Victoria Müller und gibt Kiwi, dem anderen Husky-Mischling, ein Leckerli. Sie ist Autorin, hat lange als Radiomoderatorin gearbeitet und ist auch politisch und im Tierschutz aktiv. Kiwi hat sie aus der Ukraine geholt. Als Russland die Ukraine angriff, rief sie eine Initiative ins Leben, die Tiere aus dem Kriegsgebiet holt. „Vielleicht baue ich hier einen Lebenshof auf mit geretteten Tieren.“
Im Haus häufen sich die Schuttberge, es gibt Löcher in den Wänden und Decken, schiefe Treppen, klemmende Türen. „Alle sagen immer: Da habt ihr euch aber Arbeit aufgehalst“, erzählt Max Threlfall. „Aber ich sehe das ganz anders. Hier, die alten dicken Eichendielen, da liegt zwar zentimeterdick der Schutt drauf, aber irgendwann sind sie abgeschliffen und sehen ganz wunderbar aus.“ Die Augen von Max Threlfall sehen hier nicht in erster Linie die viele Arbeit, sondern sie zeigen Vorfreude auf die gemeinsame Zukunft in ihrer neuen Heimat.
Ob sie diesen Weg meistern werden, ist offen. Denn an Tagen wie diesen, wenn die Sonne strahlt, ist selbst ein bröselndes Haus schön. Wenn aber die Novemberstürme ums Haus pfeifen, kann das Dorfleben sehr einsam sein. Doch die beiden haben Erfahrung, sind keine reinen Großstadtpflanzen. Victoria Müller wurde in Halle an der Saale geboren, ihre Eltern zogen mit ihr auf ein Dorf bei Frankfurt am Main, dann studiert sie in Darmstadt Literaturwissenschaften, lebte in London und Berlin. Bei Max Threlfall ging es von München als Kind in einen kleinen Ort im Berliner Speckgürtel und erst dann nach Friedrichshain.

So, nun müssen sie aber gleich los. Mit dem Kleinbus wollen sie nach Sachsen, ein großes Fenster abholen. Doch vorher steigen sie unters Dach. Steile Treppe, oben ein großer weiter Raum, in dem Schuttberge und ein Vorschlaghammer davon zeugen, dass etliche Wände weggerissen wurden. Mitten im Raum fein säuberlich aufgeschichtet ein Stapel ordentlich abgeputzter alter Ziegel. „Die verwenden wir wieder für die Wand unseres neuen Bades“, sagt Max Threlfall. Er greift zum Zollstock und misst noch einmal ganz genau die Höhe vom Boden bis zum Dachstuhl ab.
„Passt“, sagt er und erzählt von dem großen Industriefenster, das sie gleich holen und das 2,50 Meter mal 1,60 Meter groß ist. Dabei malt er mit beiden Händen eine Wand in den leeren Raum. „Hier etwa soll das große Fenster hinkommen“, sagt er und lächelt. „Und dann sitzen wir irgendwann in unserer Badewanne und schauen durch dieses Fenster in den Himmel. Das wird magisch.“
Victoria Müller, Max Threlfall und weitere Stadtflüchtlinge sind am Montag in der Doku „Raus aufs Land“ zu sehen, die ab 21 Uhr im RBB-Fernsehen läuft oder in der Mediathek zu finden ist. Teil 2 wird am 13. März gezeigt.
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