Stadtgeschichte: Integration von Russen war in Berlin unerwünscht

Berlin -

In den Zelten – die Straße mit diesem wunderbaren Namen gibt es in Berlin schon lange nicht mehr. Sie zog sich von der Moltkebrücke in Richtung Schloss Bellevue und befand sich in etwa dort, wo heute das Kanzleramt und das Haus der Kulturen der Welt stehen. Ihren Namen hatte die Straße von den großen, mit Zeltplanen überdachten Biergärten gleich hinter der Krolloper am Rande des Tiergartens. Zur Spree hin, auf der anderen Straßenseite, standen 23 Häuser. Es waren prächtige Stadtpalais wie das Haus, in dem Bettina von Arnim einen literarischen Salon unterhielt, oder die Villa des kunstsinnigen Rentiers Otto Wesendonck, in der später Max Reinhardt wohnte.

In den Zelten Nr. 16 wiederum ließ sich Anfang 1920er-Jahre eine besondere diplomatische Vertretung nieder: die Russische Delegation. Die Botschaft Russlands lag Unter den Linden, doch nach der Revolution in Petrograd brachen die offiziellen diplomatischen Beziehungen mit Deutschland zunächst einmal ab.

In der Villa am Tiergarten dagegen herrschte reges Treiben. Hier residierte der zaristische Spitzendiplomat Sergej Botkin mit einigen, nach dem Umsturz geflohener Beamter. Botkin vertrat als Botschafter die Regierungen von Koltschak und Denikin, die in einem Bürgerkrieg gegen die am Ende siegreichen Bolschewiki kämpften. Die Russische Delegation aber war von den deutschen Behörden als Vertretung aller Russen anerkannt.

So wurde Berlin zu einer Art russischer Ersatzhauptstadt des untergegangenen Zarenreiches und die Villa zur Anlaufstelle für viele der Revolutionsflüchtlinge. Die Angaben über deren Zahl schwanken, aber Anfang der 20er-Jahre müssen es bis zu 400.000 gewesen sein – bei vier Millionen Einwohnern. Fast ein Jahrzehnt lang war Berlin die Durchgangsstation für Angehörige des gestürzten russischen Adels und des entwurzelten Bürgertums, für Geschäftsleute, Politiker aller nicht-kommunistischen Schattierungen, Offiziere der geschlagenen weißen Armeen und Mitglieder der vertriebenen intellektuellen Elite.

Hilfe von Landsleuten

Eine große Gruppe von Geistes- und Naturwissenschaftlern, Juristen und Journalisten wurden beispielsweise im September und November 1922 auf Geheiß der Sowjetregierung außer Landes gebracht. An Bord der Deportationsschiffe befanden sich unter anderem der Philosoph Nikolai Berdjajew und sein rechtskonservativer, monarchistischer Kollege Iwan Iljin, den der heutige russische Präsident Wladimir Putin so sehr schätzt.

Zehntausende ließen sich von der Russischen Delegation Personaldokumente ausstellen, bei der Erledigung von Formalitäten mit den deutschen Behörden helfen, Sprachkurse oder politische und kulturelle Kontakte sowie auch Wohnungen vermitteln. Die Villa der Zarendiplomaten war also so etwas wie ein „russisches Lageso“, das allerdings nach den Beschreibungen zumindest zeitweise recht gut funktioniert haben muss. Dabei waren die Russen in Berlin „nur gelitten, nicht willkommen“, wie der Historiker und Essayist Karl Schlögel in seinem gerade jetzt wieder lesenswerten Buch „Berlin, Ostbahnhof Europas“ glänzend beschreibt.

Die Russen kamen, weil das Leben in Berlin nach dem Weltkrieg zwar auch nicht einfach, aber preiswert war. Kaum jemand konnte sich luxuriöse Wohnungen oder gar eine Villa in Zehlendorf leisten. Oft lebten mehrere Familien zusammen. Tausende Flüchtlinge saßen bis Ende der 20er-Jahre auch in Sammellagern außerhalb der Stadt fest.

Aber wer zu den Zeiten der Hyperinflation über ausländische Währung verfügte, wenn auch nur ein paar Goldrubel, konnte wochenlang überleben. Ohrringe, Edelsteine, Ringe und Pelze wurden verkauft. Ein Zobelmantel, so lässt sich nachlesen, brachte Anfang 1922 zwischen 200.000 und 300.000 Reichsmark.

In kürzester Zeit entstand eine ganz eigene und eigenständige Infrastruktur, ein halbstaatlicher und kultureller Mikrokosmos, dessen Zentrum im Berliner Westen, in Wilmersdorf und Charlottenburg, lag. Beide Bezirke gehörten selbst erst seit kurzem zu Berlin. Hier gab es nun russische Bäckereien, Cafés und Läden für alles und jedes. Ein russisches Branchenbuch aus dem Jahr 1923 verzeichnet 48 russische Verlage in Berlin und 24 Zeitungen. Zeitweise waren es sogar noch mehr.

Es bildete sich eine Gesellschaft, heute würde man „community“ sagen, zu der Deutsche kaum Zugang hatten, aber wohl auch nicht suchten. Mit einer Ausnahme: Die russischen Varietés galten in einer ohnehin wilden Stadt als die wildesten und originellsten jener Zeit, die Bälle und Partys als gesellschaftliche Höhepunkte.

„Nacht! Tauentzien! Kokain!“

„Charlottengrad“ sei das „Treibhaus der russischen Kultur von gestern“, schrieb der Dichter Andrej Bely, den es 1922/23 nach Berlin verschlagen hatte. Der Wittenbergplatz sei den Deutschen zu teuer, die Tauentzienstraße das Zentrum der russischen Partys. „Nacht! Tauentzien! Kokain! Das ist Berlin!“, reimte er. Bely, der aus dem „erklärt wahnsinnigen Sowjetrussland“ kam, fällt in Berlin die Ruhe und harmlose Übersichtlichkeit auf. Klar, nüchtern, verständlich, zivilisiert, organisiert – das ist für ihn das alte, deutsche Berlin. Doch wenn man genauer hinsehe, so Bely, dann erkenne man die Neigung, alles in die Luft zu sprengen.

Gerade die russischen Schriftsteller scheinen mit ihrer zeitweisen Wahlheimat nicht besonders gut zurechtgekommen zu sein. Viktor Sklowski, der 1923 in Charlottenburg wohnte, wurde vom Heimweh gepeinigt. Das lässt sich nachlesen in seinem bitteren Buch „Zoo oder Briefe nicht über die Liebe“. Boris Pasternak, der Autor des Revolutionsepos’ „Doktor Schiwago“, fand Berlin „vollkommen unnütz“ und blieb doch eine Weile hier hängen. Der spätere Nobelpreisträger Wladimir Nabokov ließ acht Romane in Berlin spielen, keiner davon machte ihn weltberühmt. Vielleicht zog er auch deshalb weiter. Vielleicht aber auch, weil sein Vater in Berlin ermordet wurde.

Von wegen „slawische Hugenotten“

Die meisten der russischen Flüchtlinge wünschten sich die Rechte der deutschen Staatsbürger, eine Integration also. Doch das wurde zunehmend erschwert. Diese Entwicklung setzte früh ein, machte sich jedoch erst mit Verzögerung richtig bemerkbar. Im Herbst 1921 entzog die sowjetische Regierung den Exilanten die Staatsbürgerschaft; im Jahr darauf schloss Deutschland mit der Sowjetunion den Vertrag von Rapallo.

Sergej Botkin verlor die Unterstützung der deutschen Behörden, schließlich gab es jetzt wieder offizielle diplomatische Beziehungen. Im Februar 1923 schrieb Botkin eine Denkschrift, in der er um langfristig geltende Ausweise für die Exilanten bat. Das Auswärtige Amt ging nicht darauf ein. Die Russen waren danach Staatenlose, sie erhielten den Nansen-Pass, der von der Behörde des Staates ausgestellt wurde, in dem sich der Flüchtling aufhielt.

Der Diplomat Wipert von Blücher, einer der Architekten des Rapallo-Vertrages, spricht in seinen Erinnerungen über das russische Berlin der 1920er-Jahre verklärend von einem „Hugenottentum mit slawischem Vorzeichen“. Aber dieser Vergleich ist nicht nur beschönigend, er ist schlicht falsch: Kurfürst Friedrich Wilhelm hatte den französischen Glaubensflüchtlingen mit dem Edikt von Potsdam besondere Privilegien gewährt, vor allem um einen Handwerkermangel in seinen Landen zu beheben. Die Hugenotten wurden integriert.

Die Situation in den 1920er-Jahren war eine völlig andere. Die deutsche Innenpolitik war wegen der hohen Arbeitslosigkeit grundsätzlich auf eine Verringerung des Anteils von Ausländern auf dem Arbeitsmarkt gerichtet. Mit dem Vertrag von Rapallo wurde die Situation der meisten Exil-Russen noch prekärer. Sie hatten danach nur noch in Ausnahmefällen Anspruch auf den „Fremdarbeiter-Status“ und damit faktisch keine Chancen, in einem deutschen Unternehmen angestellt zu werden. Anders war es nur für die Selbstständigen: Das Gewerberecht kannte keine Beschränkungen.

So wurde die Frage der Russland-Flüchtlinge faktisch durch Nicht-Integration gelöst, und durch den wirtschaftlichen Aufschwung: Berlin wurde zu teuer. Die meisten Russen zogen weiter. Nach Nordamerika, Prag oder auf den Balkan.