Was ist mit Berlins Nachtigallen los in diesem Jahr?

So viele Vögel wie nie, so viel Krach wie selten. Das große Finale, bevor es zu Ende geht? Oder nur Einbildung? Unsere Kolumnistin forscht nach den Ursachen.

Ein glücklicher Nachtigall-Vater gibt seinen Söhnen den ersten Gesangsunterricht.
Ein glücklicher Nachtigall-Vater gibt seinen Söhnen den ersten Gesangsunterricht.Christian Naumann/imago

Es war mitten im Tennismatch, Doppel in Brandenburg. Ich hatte Aufschlag, da rief Vereinsmitglied H. auf dem Nachbarplatz: eine Jungmeise, eine Jungmeise! Ich verschlug den Return, weil ich nach Vögeln Ausschau hielt, statt nach dem Ball.

Es handelte sich, wie sich herausstellte, um eine Meise, die zum ersten Mal aus dem Nest geflogen war. Keine Ahnung, woher H. das wusste, aber um den Sieg war es geschehen. Die Meise war schuld. Es hätten aber auch die Störche sein können, die kurz darauf über unsere Sandplätze segelten. Oder der Rotmilan. Oder die Kraniche, die in diesem Jahr so dicht ans Dorf kommen wie nie. Von den Nachtigallen in der Stadt ganz zu schweigen. All die Nachtigallen! Wo immer ich mit meiner Tennis-Damenmannschaft zum Punktspiel antrat in dieser Saison, pfiffen und trällerten sie von den Bäumen. Sieben allein zählte ich, als ich neulich aus dem Prenzlauer Berg mit dem Rad zum Obersee fuhr. Mitten am Tag.

Innerer Brutdruck, auffälliger Gesang

Es ist Frühling, die Natur explodiert, die Vögel drehen durch. Selten ist es mir so aufgefallen wie in diesem Jahr. Ich habe das Gefühl, in einem Wildtiergehege zu leben. Oder auf der Arche Noah. Die Seen trocknen aus, die Arten sterben aus, auf den Straßen tobt der Klima-Kleber-Kampf, und bevor es zu Ende geht, versammelt sich alles noch mal zum großen Finale. Oder ist das alles nur Einbildung?

Ich rufe Derk Ehlert an, Berlins Wildtierexperten, und berichte ihm von meinen Nachtigall-Beobachtungen. Ob das normal sei? Der Krach, das Singen, sogar am Tag?

Ehlert hat eine freundliche Stimme und eine angenehm unaufgeregte Art. Er sagt, die aktuellen Nachtigall-Daten kämen erst Ende des Jahres. Seines Wissens gebe es nicht mehr als sonst in Berlin. Aber dass sie lauter seien als in den Jahren zuvor, das sei ihm auch aufgefallen. Der Grund: Im April war es kälter als 2021, 2022, die Nachtigall-Weibchen seien zwei, drei Tage später in Berlin gelandet, die Männchen nervös geworden. Ehlert spricht von einem starken „inneren Brutdruck“, der sich in einem „auffälligeren Gesang“ geäußert habe. Am Tag, um das Revier zu markieren, in der Nacht, um die „ziehenden Weibchen“ anzulocken.

Der Wildtierexperte als Tourmanager

Der Wildtierexperte kennt sich mit dem Nachtigall-Brutplan aus, als sei er ihr Tourmanager. Ankunft aus Südafrika in Berlin: 24./25. April, Nestbau bis 29. April, Schlüpfen der Brut 13. bis 16. Mai. Er sagt Sätze wie: „Zwei, drei Tage sind für uns Menschen nichts, für einen Vogel ganz viel.“ Oder: „Pfingsten ist das Brutgeschäft in vollem Gang.“ Aber auch: „Wenn man jetzt noch eine Nachtigall hört, ist es eine unverpaarte. Sie kann einem leidtun.“ 

In zwei, drei Wochen solle ich aufpassen, rät er mir. Da seien die Nachtigallen noch mal zu hören. Nicht die traurigen, unverpaarten, sondern jene glücklichen Nachtigall-Väter, die ihren Söhnen den ersten Gesangsunterricht gäben, in leiseren, kürzeren Strophen. Bevor sie sich dann alle zusammen im Juli, August wieder auf den Weg machen, zurück nach Südafrika. Die ganze Berliner Nachtigall-Schar. Da gehe der Gesangsunterricht dann richtig los, erklärt der Experte.

Ich könnte ihm ewig zuhören. Alles klingt so einfach bei ihm, die Natur folgt ihren Regeln, die Welt geht nicht unter. Noch nicht. Die Zahl der Vögel in Europa ist seit 1980 um die Hälfte gesunken. Immer mehr Kraniche überwintern in Brandenburg, wegen der milden Temperaturen in unseren Breiten. Aber der Nachtigall, dem schillerndsten aller Singvögel, geht es gut hier in Berlin. Sie liebt die Stadt. Mehr als München oder Braunschweig. Da geht es ihr wie mir.