Start im Frühsommer: Im Graefekiez fallen einige Hundert Parkplätze weg

Der Bezirk stellt Einzelheiten zu einem bundesweit einzigartigen Modellprojekt in Kreuzberg vor. Doch aus rechtlichen Gründen fällt es viel kleiner aus.

Ein Gartenzwerg steht an einer Kreuzung im Kreuzberger Graefekiez. In diesem Teil des Wohnviertels sollen Autostellplätze anders genutzt werden.
Ein Gartenzwerg steht an einer Kreuzung im Kreuzberger Graefekiez. In diesem Teil des Wohnviertels sollen Autostellplätze anders genutzt werden.Sabine Gudath

Aus juristischen Gründen ist das Projekt deutlich kleiner geworden. Der Name wurde auch geändert. „Trotzdem ist unser Vorhaben in dieser Form weiterhin einmalig in Deutschland“, sagte Andreas Knie, Mobilitätsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin. Zwar fallen im Graefekiez nicht alle 2000 Autostellflächen weg, wie dies anfangs erwartet worden war. Doch weil mit immerhin insgesamt rund 400 Parkplätzen ein wesentlicher Teil anders genutzt wird, verknappt sich das Angebot deutlich. Den Anliegern sollen Alternativen geboten werden. Am Dienstag informierte das Bezirksamt Friedrichhain-Kreuzberg über Einzelheiten des Vorhabens und den Zeitplan.

Was für die einen wie ein Quälprogramm für Autobesitzer anmutet, ist für die anderen ein wichtiges Experiment der Mobilitätswende. Andreas Knie skizzierte die Frage, die in dem Wohnviertel südlich vom Landwehrkanal in Kreuzberg in den kommenden Monaten untersucht werden soll. „Kann man mit der Umnutzung von Parkplätzen neue Qualitäten erzeugen? Kann man erreichen, dass es künftig weniger Autos gibt und dass weniger Auto gefahren wird?“ Das ist die Versuchsanordnung.

Sperre unterbindet Durchgangsverkehr

In Hamburg-Ottensen hat es bereits ein ähnliches Vorhaben gegeben. Doch Kreuzberg ist Vorreiter, weil hier doppelt so viele Autostellplätze wegfallen sollen. Das Projekt Graefekiez umfasst mehrere Elemente, sagte Annika Gerold (Grüne), die für Straßen und Ordnung zuständige Bezirksstadträtin. Im Graefekiez leben 20.000 Menschen, die rund 3600 Autos haben. Der Versuch betrifft einen Teil des Wohnviertels, der vom Kottbusser Damm, der Hasenheide, der Körte- und Grimmstraße begrenzt wird.

Der Startschuss soll bei einer Bürgerveranstaltung fallen, die am vierten Aprilwochenende unter freiem Himmel stattfindet. Ebenfalls noch im April soll damit begonnen werden, die ersten von 13 Jelbi-Stationen einzurichten, hieß es am Dienstag. Dort können dann mit einer App der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) E-Scooter, Fahrräder, Autos und andere Sharing-Fahrzeuge gemietet werden. Im Juni und Juli werden Lieferzonen geschaffen, damit die vielen Gewerbebetriebe besser erreicht werden können. Ebenfalls im Juni baut das Bezirksamt an der Ecke Schönleinstraße/ Lachmannstraße eine Diagonalsperre, um Durchgangsverkehr zu verhindern, sagte Felix Weisbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamts.

Autos fahren mit Tempo 40 an Schulen vorbei

Im Sommer, so der Amtsleiter weiter, werden auf Abschnitten der Böckh- und der Graefestraße Stellflächen für 80 Autos neu genutzt und teilweise entsiegelt. Hier ist schon seit vier Jahrzehnten ein verkehrsberuhigter Bereich ausgeschildert. „Doch es handelt sich um ein bauliches Missverständnis, denn die Anordnung wurde nicht konsequent umgesetzt“, so Gerold. Abgestellte Autos belegen viel Platz und behindern die Sicht. Mit der Umnutzung der Stellplätze werde eine „geordnete städtebauliche Entwicklung“ eingeleitet, erklärte das Bezirksamt.

Zusätzlich werde aber in dem Kernbereich des Graefekiezes, in dem mehrere Schulen liegen, auch eine „besonders qualifizierte Gefahrensituation“ beseitigt, erklärte Felix Weisbrich. Messungen ergaben, dass die meisten Autos den verkehrsberuhigten Bereich schneller als erlaubt passieren. Stellenweise sind sie mit 40 km/h unterwegs. Innerhalb von vier Stunden wurden 36 gefährliche oder bedrohliche Situationen im Straßenverkehr festgestellt, so der Amtsleiter.

Das deutsche Straßenverkehrsrecht erlaubt es der Verwaltung in einem solchen Fall, mit Verkehrsbeschränkungen zu reagieren. „Im übrigen Teil des Graefekiezes haben wir es dagegen mit einer durchschnittlichen Gefährdungslage zu tun“, sagte Weisbrich. Dort könnte ein Gericht zu dem Schluss kommen, dass es unverhältnismäßig wäre, alle oder einen Großteil der Autostellplätze aufzuheben. Deshalb heißt das Vorhaben nicht mehr „Graefekiez ohne Parkplätze“.

Im Frühjahr 2024 entscheidet das Bezirksparlament

Es sind also rechtliche Gründe, warum sich das Modellprojekt nun auf einen Teil des Wohnviertels konzentriert, so der Bezirk. „Wir haben den Versuch robust gegenüber möglichen juristischen Anfeindungen gestaltet“, betonte Andreas Knie. Das Wissenschaftszentrum hatte die möglichen Szenarien, zu denen auch eine Variante mit dem Wegfall von 600 Stellflächen gehörte, ausführlich juristisch bewertet. Wie berichtet, hatte die CDU im Bezirk mitgeteilt, dass es Klagen von Anwohnern geben könnte. „Wir möchten verhindern, dass unser Projekt durch rechtliche Auseinandersetzungen blockiert wird“, so Stadträtin Gerold.

Der Verein Paperplanes, der sich nicht weit entfernt darum bemüht, unter der Kreuzberger Hochbahn einen Radweg einzurichten, ist bei dem Projekt für die Bürgerbeteiligung zuständig. Vorgesehen sind feste Sprechstunden, Ausstellungen und eine „Straßenakademie“, sagte Vereinssprecher Simon Wöhr. Das Wissenschaftszentrum ist wiederum für die Begleitforschung zuständig. Mit TomTom wird die Fahrleistung gemessen, umfangreiche Befragungen sind geplant, so Knie. „Uns geht es um die Frage: Kann dieses Projekt als Muster für Berlin dienen?“ Im Frühjahr 2024 soll die Bezirksverordnetenversammlung darüber entscheiden, ob die Maßnahmen beibehalten werden.

Anwohner weichen ins Parkhaus am Hermannplatz aus

Steuergeld steht nicht zur Verfügung. Finanziert wird das Vorhaben aus Mitteln der Stiftung Mercator, der Bundesstiftung Umwelt und der Stiftung Climate Chance. 500.000 Euro stehen zur Verfügung.

Erste Reaktionen auf den geplanten Versuch gibt es schon, sagte Amtsleiter Weisbrich. Im Parkhaus des Galeria-Kaufhof-Warenhauses am benachbarten Neuköllner Hermannplatz können Bewohner des Graefekiezes für 50 Euro pro Monat Stellplätze für ihre Autos mieten. „400 Parkplätze standen zur Verfügung“, so Weisbrich. „Inzwischen sind es nur noch rund 100.“ Den Run auf die Stellflächen wertete er als „ersten Erfolg“ des Projekts Graefekiez.