Steigende Neuzulassungen: Berlin wird immer mehr zur Autostadt

Ralf Drescher fährt in Berlin Auto, und das nicht zu knapp. „Mein Job ließe sich niemals von einem durchschnittlich fitten Menschen mit dem Fahrrad bewältigen. Ich führe ein Fahrtenbuch, und da stehen schnell mal 90 oder 120 Kilometer drin“, sagt der Lichtenberger. Als Halter eines Autos spielt er für die rot-rot-grüne Verkehrspolitik nur eine nebensächliche Rolle.

Doch während der Senat Berlin in eine Fahrradstadt verwandeln will, nimmt die Zahl der Kraftfahrzeuge weiter zu. Im vergangenen Jahr überstieg die Zahl der Pkw in Berlin die 1,2-Millionen-Marke. Bei den Neuzulassungen und den Fahrerlaubnisprüfungen gehen die Zahlen ebenfalls weiter nach oben. Das zeigen neue und aufbereitete Zahlen des Kraftfahrt-Bundesamts (KBA).

Fast fünf Prozent mehr Autos

Danach waren am 1. Januar 2018 rund 1,202 Millionen Pkw in Berlin zugelassen – 7680 mehr als ein Jahr zuvor. Im Vergleich zu 2013 ist die Zahl um fast 54.000 gewachsen, ein Plus von 4,64 Prozent. Die Statistik zeigt auch, dass Elektroautos weiterhin ein Randphänomen sind, trotz aller Bemühungen der Politik. So gab es zum Jahresbeginn nur 2007 Elektro-Pkw mit Berliner Kennzeichen. Hinzu kamen 1445 Plug-in-Hybride.

Die Ära des Dieselautos ist in Berlin ebenfalls noch nicht zu Ende. Zwar sank die Zahl der Diesel-Pkw im vergangenen Jahr leicht um 0,35 Prozent, bei den Neuzulassungen betrug der Rückgang sogar 17,3 Prozent. Doch unterm Strich gab es Anfang Januar fast ein Viertel Dieselautos mehr als fünf Jahre zuvor – fast 308.000. Außerdem wurden mehr als 26.600 Diesel-Pkw neu zugelassen.

Paradies für Kraftfahrer

Bezogen auf alle Pkw, lag die Zahl der Neuzulassungen in Berlin im vergangenen Jahr um 7,2 Prozent höher als fünf Jahre zuvor. Und auch die Fahrerlaubnisbehörde hat mehr zu tun: Die Zahl der theoretischen Prüfungen stieg um rund 30 Prozent, die Zahl der praktischen Prüfungen um fast 13 Prozent – ebenfalls über einen Fünf-Jahres-Zeitraum betrachtet.

Waren die Anstrengungen der Politik, den Berlinern umweltfreundliche Fortbewegungsarten schmackhaft zu machen, vergeblich? „Erstens ist das Fahrrad in einer Flächenstadt wie Berlin kein vollwertiges Verkehrsmittel. Ein normaler Mensch wird nicht von Lichtenberg nach Spandau, Lübars oder Frohnau radeln“, entgegnet Ralf Drescher.

„Und Lieferverkehr funktioniert nur in grünen Träumen mit dem Lastenfahrrad. Auch bei 32 Grad im Schatten oder minus 15 Grad im Winter ist man besser in einem klimatisierten, privaten Automobil aufgehoben. Der Mensch ist ein Einzelgänger, und persönliche Interessen wie Bequemlichkeit, Zeitplanung und auch der Wunsch, nicht neben schlecht riechenden Mitbürgern reisen zu müssen, stehen vor vielleicht ökologisch vernünftigem Handeln.“

Die Wachstumstendenzen sind bekannt, sagt Jörg Becker vom Allgemeinen Deutschen Automobil-Club (ADAC). „Aber das will ja in Berlin keiner hören.“ Die Zahl der Berliner steigt, immer mehr Berliner haben unregelmäßige Arbeitszeiten oder fliehen vor hohen Mieten an den Stadtrand oder ins Umland – was die Straßen zusätzlich belastet.

Ins Gewicht falle auch, dass die Attraktivität des Nahverkehrs sinke, Stichworte seien Unzuverlässigkeit und Baustellen. Und so bilanziert Becker, dass das Mobilitätsgesetz, das den Autoverkehr nur am Rand erwähnt, „an den Tatsachen vorbeigeht“. Der Senat müsse den Fakten Rechnung tragen und mehr für Autofahrer tun.

Berlin hat sich an den Bundestrend angepasst, sagt Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin. „Es gibt mehr Menschen im Umland mit Häuschen und Auto.“ Ihnen werde es leicht gemacht, mit dem Pkw zur Arbeit zu fahren. „Nach unseren Erkenntnissen gilt Berlin insbesondere bei Einpendlern als Autoparadies, da hier die Abstellmöglichkeiten wunderbar sind. Die Einfallstraßen, vor allem der Tempelhofer Damm, haben in der Zeit von 7 bis 10 Uhr deutlich an Verkehr zugenommen.“ Wenn die Stadt weiterhin auf eine flächendeckende Parkraumbewirtschaftung verzichte, werde sie mit Autos „vollgesogen“, warnt Knie.

Kein Grund, dem Auto mehr Raum zu geben

„Der Senat macht ja gar keine Verkehrspolitik, er verwaltet die Verkehrsinfrastruktur. Das Mobilitätsgesetz geht in die richtige Richtung, es ist aber nicht weiter als eine Präambel. Auf das Verhalten hat es noch keine Auswirkungen“, stellt der Wissenschaftler fest. Bei der Interpretation der Diesel-Zahlen rät er zur Vorsicht: Nur ein Drittel der Zulassungen betreffen private Autos, der Rest sind händlereigene oder Flottenzulassungen, etwa von Mietwagen.

Berlin wächst, und immer mehr Menschen fahren bis ins hohe Alter Auto, sagt Heinrich Strößenreuther vom Verein Changing Cities. Doch die Statistik ist für ihn kein Grund, dem Auto mehr Raum zu geben. Die Fahrleistung und der Anteil des Autos an allen zurückgelegten Wegen sinken, der Radverkehr nehme zu: „Wer Autofahrern das Leben erleichtern will, der muss dafür sorgen, dass noch mehr Menschen auf das Rad umsteigen. So wird Platz auf den Straßen frei für alle, die auf Kraftfahrzeuge angewiesen sind.“

Zweite-Reihe-Parker stehen im Weg

Auch Tilmann Heuser vom Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) warnt davor, aus den KBA-Daten falsche Schlüsse zu ziehen. Denn seine Berechnungen zeigen, dass die Bedeutung des Autos in Berlin abgenommen hat. So sei die Zahl der Pkw pro tausend Einwohner gesunken – von 339,3 im Jahr 2011 auf 332,7 im vergangenen Jahr. Werden gewerbliche Wagen herausgerechnet und nur Privatautos betrachtet, ging dieser Anteil sogar von 304,2 auf 288,9 zurück. Bezogen auf ganz Deutschland nahm diese Zahl dagegen zu: von 527 auf 554,1.

Um die Straßenbelastung korrekt abschätzen zu können, müssten weitere Faktoren betrachtet werden, etwa die Zahl der Kilometer, die tatsächlich zurückgelegt werden, oder die Zahl der Zweite-Reihe-Parker. Dass die Zahl der Führerscheinprüfungen zunimmt, erklärt er so: Die Zahl der 18- bis 25-Jährigen nehme wieder zu, zudem leben in Berlin immer mehr Nicht-EU-Ausländer, die hier nochmals eine solche Prüfung ablegen müssen. Zahlen sind das eine, meint Heuser. „Doch sie müssen auch richtig analysiert werden.“