Stern und Kreisschiffahrt: Die Fahrgäste sollen sich amüsieren
Eine Stunde vor der Abfahrt sieht man Rainer Wille noch nicht an, dass er der Chef auf der „Sachsen“ ist, nicht auf den ersten Blick jedenfalls. In blauer Latzhose und weißem Unterhemd sitzt Wille auf einer Bank am Bug seines Schiffs. Der Kapitän zündet sich eine Zigarette an und trinkt von seinem „Dienstbier“, wie er seine Apfelschorle nennt.
Er hat eine fünfstündige Fahrt vor sich, die Spree hinauf durch Treptow und Köpenick, rund um die Müggelberge. Es ist warm, die Sonne scheint und Rainer Wille, Kapitän bei der Stern und Kreisschiffahrt, hat gute Laune. „Köpenick ist der schönste Stadtteil“, sagt er. Er schätze die vielen ruhigen Oasen, die Restaurants, die Schlosskonzerte. „Berlin lernt man ja erst mit der zweiten Reihe kennen“, sagt er, „nicht allein durch Reichstag und Kanzleramt.“ Diesen Satz werden seine Fahrgäste im Laufe des Tages noch häufiger von ihm hören.
Seit 45 Jahren ist Wille Schiffsführer. Es war im September 1968, als der damals 17-Jährige seine Ausbildung zum Matrosen der Binnenschifffahrt begann – bei der Weißen Flotte, wie nach der Teilung der Stadt das Unternehmen in Ost-Berlin hieß. 1973, drei Jahre nach dem Ende seiner Ausbildung, hatte Rainer Wille bereits das Kapitänspatent. Heute ist er der dienstälteste Schiffsführer der Stern-und-Kreis-Flotte.
Bevor Rainer Wille im Hafen am Treptower Park ablegt, muss er seine rund 140 Fahrgäste warnen, vor den niedrigen Brücken, die das Schiff gleich erwarten. „Für die, wo jetzt zuhören: Aufs Oberdeck geht es erst ab Schöneweide“, tönt seine Stimme durch die Lautsprecher. „Ihre Gesundheit liegt uns sehr am Herzen.“ Mit falschem Deutsch zu sprechen, erhöhe die Aufmerksamkeit, sagt er als das Mikrofon wieder aus ist. Er grinst.
Überhaupt ist der 62-jährige Vater von drei Kindern zu Scherzen aufgelegt und freut sich, wenn seine Fahrgäste sich amüsieren. Die Erläuterungen zur Rundfahrt übernimmt Wille selbst, wie fast alle Schiffsführer. Das Mikro lässt er eigentlich nur aus der Hand, um Luft zu holen. Wille hat viel zu erzählen, über die Stralauer Dorfkirche, den verwaisten Spreepark, die kleine Spree-insel Bullenbruch, die Strand-Mensa der Hochschule für Technik und Wirtschaft. Unterbrochen wird er ab und an nur von Mario Barth. „Jetzt haste Stress, jetzt haste Stress“, ertönt dessen Stimme, wenn Willes Diensthandy klingelt.
Der Kapitän fühlt sich sichtlich wohl auf seiner 53 Meter langen und gut 50 Jahre alten „Sachsen“, die er seit 2006 fährt. „Das ist noch ein richtiges Schiff“, sagt er. Kaum technische Hilfsmittel, kein Schnickschnack. Heutige Schiffe hätten überall Kameras, weil sie für den Kapitän so unübersichtlich gebaut seien. Viele Fahrgastschiffe hat Wille in all den Jahren gefahren – die „Picasso“, die „Heinrich Zille“, die „Pankow“, die „Marlene“, die 2007 durch Brandstiftung zerstört wurde.
Rainer Wille sitzt an seinem Steuer – das nach einer technischen Modernisierung allerdings auch nur noch aus einem kleinen Hebel besteht –, einen Fuß lässig auf dem Armaturenbrett abgestellt, die entgegenkommenden Schiffe im Blick. Sein Bootsmann kommt und bringt ihm einen neuen Kaffee. Unten werden die Ausflügler von den Gastronomiemitarbeitern mit Eis und Bockwurst versorgt. Vor der niedrigen Eisenbahnüberführung neben der Wilhelm-Spindler-Brücke muss Wille sein Führerhaus absenken. Das Schiff passt danach geradeso hindurch. Dann ist das Oberdeck für die Gäste freigegeben.
Kurz darauf legt die „Sachsen“ in der Köpenicker Altstadt an. Dort warten schon mindestens 50 weitere Gäste. Der Kapitän muss wenden. Die entgegenkommenden Motorboote werden per Schiffshorn gewarnt. Ein Mal lang, zwei Mal kurz. Wenden über Backbord, bedeutet das. Das Anlegen an der kleinen Pier ist Routine für Rainer Wille. „Ich habe das schon mindestens 8 000 Mal gemacht“, sagt er.