Straßenumbenennung: Martin Luther soll weg

Ein Gutachter empfiehlt die Umbenennung von hundert Berliner Straßen – Geschichtstilgung im großen Maßstab und reiner Selbstbetrug.

Das Straßenschild der Martin-Luther-Straße in Berlin-Schöneberg.
Das Straßenschild der Martin-Luther-Straße in Berlin-Schöneberg.dpa/Christoph Soeder

Berlin - Jetzt geht es an die kulturelle Substanz: Auf der jüngsten Liste der zur Tilgung vorgeschlagenen Berliner Straßennamen stehen nicht nur historische Randfiguren, sondern auch solche, ohne die sich Deutschland nicht denken lässt. Martin Luther ist dran – der Rebell und Reformator: Begründer der stärksten Kirche hierzulande, Wegbereiter des modernen Deutsch. Die von ihm angestoßene Modernisierung der christlichen Kirche führte in den Dreißigjährigen Krieg, zu einer Neuordnung Europas und wirkte weltweit.

Keine historische Figur prägt das Denken und Handeln hierzulande stärker, auch das von Nicht-Christen und Nicht-Protestanten. Weg mit Martin Luther, auf den Müllhaufen der Geschichte? Er wütete in groben Reden gegen viele seiner Zeitgenossen, besonders heftig gegen Juden. Er verübelte ihnen, dass sie den von ihm in neuer Form dargebotenen Gott nicht als den ihren sehen mochten.

Judenhass existierte als gesellschaftliches Gift lange bevor der Begriff Antisemitismus im 19. Jahrhundert aufkam und damit dem alten Antijudaismus so eine besonders aggressive – rassistische – Komponente hinzugefügt wurde. Der Antisemitismus gehört zu Deutschland, seit sich Juden hierzulande ansiedelten, und er verschwindet nicht. Im Gegenteil. Allenthalben werden Juden beleidigt, bedroht, real attackiert. Der Hass kommt von rechts, links, aus der Mitte der Gesellschaft, von Islamisten.

Viele wollen etwas gegen Antisemitismus tun, aber was wirkt wirklich? Die Ratlosigkeit ist groß. Von Samuel Salzborn, seit August 2020 Berliner Antisemitismusbeauftragter, hatte man noch nicht viel gehört. Nun wissen wir: Er hat den Leipziger Politologen Felix Sassmannshausen, der vor allem Lesern der Linksaußen-Zeitung Jungle World bekannt ist, damit beauftragt, die Berliner Straßennamen auf antisemitische Verdachtsfälle zu durchforsten. Dieser hat es binnen eines halben Jahres vermocht, die Namensgeber der 10.500 Straßen und Plätze Berlins zu sortieren: 290 suspekte Fälle listet er auf, für etwa hundert hat er sein Urteil gefällt: Weg damit! So einfach kann Geschichte sein.

Goethe erforschen

Er gibt jeweils eine Kurzbegründung, die zum Beispiel im Fall von Otto Dibelius, evangelischer Bischof für Berlin-Brandenburg, lautet: „Dibelius gilt als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, weil er in der Bekennenden Kirche aktiv war.“ Es folgt eine Reihe antisemischer Äußerungen. Deshalb: Recherche und umbenennen! Richard Wagner, der viel bewunderte Komponist und Antisemit, erfährt ein klares Verdikt: Umbenennen! Johann Wolfgang von Goethe landet in der Kategorie „Weitere Forschung“. Andere sollen „kontextualisiert“ werden.

Gegen fortgesetzte Beschäftigung mit unseren Vorfahren spricht gar nichts, und selbstverständlich sieht Samuel Salzborn die Liste als Beginn von Debatten. Aber das Sortieren mit leichter Hand wirkt doch sehr gewagt. Zudem stellen sich Fragen zu den Auswahlkriterien: Karl Marx steht nicht auf der Liste, obwohl dem Kommunisten jüdischer Herkunft antijüdische Äußerungen nachzuweisen sind. Es fehlt die Judenhasserin Caroline von Humboldt, die ihren Gatten Wilhelm mit Forderungen nervte, die Juden-Emanzipation zu verhindern.

Geschichte ist hässlich

Die Befassung mit jeder historischen Person wird von Nutzen sein, aber die Vorstellung, das Verschwinden von Namen mache die hässlichen Verhältnisse schöner, kann weder für die Gegenwart noch für die Vergangenheit zutreffen. Die deutsche Vergangenheit ist voller Gewalt, gipfelnd im Holocaust. Das Hässliche ausätzen zu wollen, um die Vergangenheit den Augen von uns Heutigen angenehmer erscheinen zu lassen, ist absurd. Das Wegbenennen von Luther, Wagner oder Turnvater Jahn läuft auf ein Täuschungsmanöver hinaus, auf Realitätsflucht und Selbstbetrug.

Die Ursachen von Antisemitismus, egal ob historisch-religiös, modern-rassistisch, islamistisch-antizionistisch oder links-weltverschwörerisch, wirken fort. Fast immer nahm der Judenhass zu, wenn Gruppen ihre „Identität“ gegen das Andere aufbauten. Immer wieder gelang es, die religiös, national oder sonstwie siedende Volksseele gegen „Feinde“ zu hetzen.

Wir sind nicht die besseren Menschen

Wir Heutigen haben keinen Grund, uns für die besseren Menschen zu halten. Nichts rechtfertigt den Glauben, wir hätten den Gipfel der Moral erobert und dürften nun im Sonnenschein des Selbstgefallens missmutig herabblicken auf die buckligen Riesen, deren Schultern uns tragen. Und wer weiß schon, wie kommende Generationen über uns urteilen – uns Klimakiller, Ressourcenfresser, Neokolonialisten. Womöglich empören sie sich über das Unvermögen, reale Probleme anzugehen und in Scheindebatten zu flüchten. Wie die über Straßennamen.