Streitgespräch: „Erklär’s mir…“

Berlin - Am Ende war es ein einziger Satz, der Rot-Grün  – bis dahin die beliebteste Koalition in Berlin – zum Scheitern brachte. Es ging um die Autobahn 100: Die SPD wollte einen Weiterbau vom Dreieck Neukölln bis zum Treptower Park, rund 3,2 Kilometer, die Grünen forderten einen Stopp des Projekts, das der Bund mit 420 Millionen Euro finanziert. Man hatte sich geeinigt, die Bundesmittel auf andere Verkehrsinvestitionen umwidmen zu lassen, wenn irgend möglich. Aber offen blieb, was zu tun ist, wenn dies nicht klappt. Am Dienstag, den 4. Oktober, trafen sich die rot-grünen Unterhändler, um eine Einigung zu formulieren. Doch der vermeintliche Kompromiss hielt am Tag darauf, dem Beginn der offiziellen Koalitionsverhandlungen, keine Stunde lang. Die SPD brach die Gespräche ab. Der Satz, über dessen Bedeutung man sich nicht einig wurde, lautet: „Sollte sich eine Umwidmung der Bundesmittel auch nach Bewertung durch eine neue Bundesregierung nicht erreichen lassen, wird mit der Verlängerung der BAB 100 am Autobahndreieck Neukölln (qualifizierter Abschluss) begonnen.“

Wir haben zwei der wichtigsten Verhandler  gefragt, wie das passieren konnte: Den Grünen Daniel Wesener und den Sozialdemokraten Mark Rackles. Ein Streitgespräch über ein Missverständnis. Ein Missverständnis?

 Herr Wesener, was ist ein „qualifizierter Abschluss“?

Wesener: Das ist ein Begriff, den jeder Verkehrspolitiker sofort versteht. Er bezeichnet das Ende einer Autobahn.

 Wo sollte die A 100 enden?

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W.: Es ist doch klar: Wenn man im Jahr 2014 anfängt zu bauen, dann hat man nur noch zwei Jahre bis zur nächsten Wahl. In diesen zwei Jahren schafft man nur ein paar Hundert Meter, mehr nicht. Ein kurzer Blick auf die Karte von Neukölln zeigt: Die nächste Station ist die Sonnenallee, etwa 900 Meter entfernt vom Dreieck Neukölln. Bis dahin kann man in dieser Zeit höchstens bauen. Und zwar entweder als qualifizierter Abschluss der Autobahn, also als Beendigung der A 100, oder aber als erster Bauabschnitt. Dies hätte dann die nächste Landesregierung entscheiden müssen. Das war unser Angebot.

 Wir räumen  hier ein, dass wir den Begriff „qualifizierter Abschluss“ nicht verstehen. Sie, Herr Rackles?

Rackles: Uns hat das erst einmal gar nichts gesagt. Am Dienstag, als wir über den Kompromiss sprachen, war von der Sonnenallee und dass da Schluss sein soll, doch gar nicht die Rede. Was du da sagst, Daniel, entspricht in keiner Weise dem Inhalt des Gesprächs vom Dienstag. SPD wie Grüne suchten nach einem Kompromiss. Die SPD war am Dienstag bereit, das Projekt bis zur Bundestagswahl 2013 zu verschieben, später sogar bis März 2014. Aber es war auch klar, dass wir von den Grünen dafür den Einstieg in den Weiterbau der A 100 erwarten.

 W.: Genau darum geht es doch. Es wäre ja definitiv ein Weiterbau gewesen. Wir haben gewusst, dass wir uns da bewegen müssen, weil die SPD uns mit der Verschiebung entgegenkam. Also haben wir gesagt: Wir werden einen Weiterbau konzedieren müssen, aber nur so weit, wie er in dieser Wahlperiode überhaupt noch umsetzbar ist. Das wäre eben der Abschnitt bis zur Sonnenallee gewesen. Deswegen lautete unser Vorschlag, man beginnt am Autobahndreieck Neukölln und baut nur bis zur Sonnenallee. Das war gemeint mit „qualifizierter Abschluss“. Damit sind wir über sogar über den Beschluss auf unserer Landesdelegiertenkonferenz hinausgegangen.

 Dort lautete die grüne Ansage noch: Mit uns gar kein Weiterbau, auch kein Einstieg.

R.: Wenn die Grünen am Dienstag explizit gesagt hätten, lasst uns nur ein Drittel der ganzen Maßnahme bis zum Ende der Wahlperiode beschließen, dann wäre das ja verhandlungsfähig gewesen. Aber dazu muss klar sein, worum es geht. Das ist etwas, was mich wirklich stört: Ich habe mich persönlich ziemlich weit für die rot-grüne Sache rausgehängt. Das war nicht einfach, die SPD so weit zu bekommen, dass wir am Ende sogar bis März 2014 abgewartet hätten. Aber dass die Grünen dann mit diesem Spielchen kommen und sich noch ins Fäustchen lachen, dass die SPD wohl nicht ganz verstanden hat, was gemeint ist – das kann ich nicht begreifen.

 W.: Moment, das war kein Spielchen. Für uns war völlig klar, was „qualifizierter Abschluss“ heißt. Wir haben uns eher gewundert, dass die SPD das mitmacht, wenn wir nur bis zur Sonnenallee bauen wollen. Erst im Nachhinein ist uns aufgegangen, dass die Sozialdemokraten vielleicht etwas anderes verstanden haben als gemeint war.

 R.: Wir haben über den Satz gar nicht mehr groß diskutiert. Für uns war klar: Die Grünen akzeptieren den Einstieg in den Weiterbau. Aber wir wollten genau wissen, ob dieses Zugeständnis auch hält, weil am Dienstagabend noch die große Verhandlungsrunde der Grünen darüber beriet. Deswegen habe ich noch eine SMS geschrieben an dich, Daniel. Wie geht es weiter, habe ich gefragt. Darauf hast du geschrieben: Wisst ihr eigentlich, was ihr da beschlossen habt? Und ich zurück: Erklär's mir... Gruß Mark. Ab dann war aber leider Funkstille, und zwar zwölf Stunden lang bis zum Start der Koalitionsverhandlungen.

 W.: Es gab keine Funkstille, ich habe mit Michael Müller telefoniert.

 R.: Aber erst am Mittwochmorgen, kurz vor Verhandlungsbeginn.

 W.: Weil wir das Thema am Anfang der Gespräche klären wollten. Auch die SPD hatte  noch nicht endgültig Ja gesagt zu dem Kompromiss. Wir hatten auch nicht damit gerechnet, weil Klaus Wowereit immer bis zum Treptower Park durchbauen wollte. Und wahrscheinlich noch darüber hinaus.

 R.: Davon war überhaupt keine Rede vorher. Wir hatten kein Absprachebedürfnis mehr. Bei uns herrschte gespanntes Interesse, was die Grünen liefern. Wir wollten nur noch wissen, ob sie Ja oder Nein sagen. Und wir hatten erwartet, dass wir dazu vorher eine klare Rückmeldung kriegen. Das Problem lag auf eurer Seite: Nachdem wir nichts von euch gehört hatten bis zum Mittwochmorgen, haben wir in unserer Vorbesprechung gesagt: Wenn es heute noch irgendeine Form von Interpretation gibt, dann sind die Gespräche am Ende. Das war eine klare Ansage.

 Die Kompromissformel war ein grüner Vorschlag, vorgelegt von Fraktionschef Volker Ratzmann. Wie kamen Sie eigentich auf diesen technischen Begriff „qualifizierter Abschluss“? Kam das vom BUND, vom „Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland“, der die Grünen berät?

W.: Das ist ein alter Vorschlag vom Berliner BUND, völlig richtig. Der BUND hat sich schon vor Jahren Gedanken gemacht, wie man die geplante Schließung des Autobahnrings verhindert, aber zugleich die massiven Verkehrsprobleme am Dreieck Neukölln in den Griff bekommt. Und der Vorschlag lautet, die Stausituation zu entspannen, indem man nur bis zur Sonnenallee baut. Dort gibt es auch keine Probleme im Umfeld, weil die Strecke durch ein Gewerbegebiet führt und man weder Kleingärten planieren noch Häuser abreißen muss.

 Herr Rackles, fühlen Sie sich reingelegt?

R.: Nicht reingelegt. Aber ich glaube, es war zu dem Zeitpunkt nicht mehr der ernste Wille der Grünen da, dieses Thema wirklich zu klären. Es war einfach abwegig, die Kompromissformel so zu verstehen, dass an der Sonnenallee Schluss ist mit Bauen. Da steht doch drin, dass es ein Einstieg in den Weiterbau ist. Alles andere ist eine Lesart, die dazu führt, dass man raus will aus der Koalition. Die SPD hatte sich sehr weit bewegt. Eine Verschiebung bis 2014 wäre faktisch eine Beendigung des ganzen Projekts gewesen. Das sind für mich dann Spielchen, wenn man so einen Klammerzusatz aufschreibt, der dann plötzlich entscheidend ist. Das finde ich schon unseriös.

W.: Moment. Das Spielchen, das wir gesehen haben, war, dass die SPD von Anfang einen Affront wollte. Für uns war klar: Wowereit will diese Koalition nicht. Ihm war einfach die Ein-Stimmen-Mehrheit zu knapp. Das ist doch ein offenes Geheimnis. Und dann wurde nach Sollbruchstellen gesucht.

 Ist das auch Ihr Eindruck?

 R.: Nein, überhaupt nicht.

 W.: Das muss du jetzt so sagen.

 R.: Es ist eine spannende Frage, woran Rot-Grün jenseits der A 100 gescheitert ist.

 Woran denn?

R.: Vertrauen ist ein Faktor, der die ganze Zeit fehlte. Wir hatten uns ja schon im Wahlkampf völlig verhakt. Die Grünen kamen von ihrem 30-Prozent-Gefühl und wollten da bleiben. Ihr nennt das Augenhöhe, ich nenne das ein psychisches Problem. Deshalb haben wir uns gleich am Anfang an einem der schwersten Punkte, der Autobahn, verhoben. Wir hatten gar keine Zeit und keinen Spielraum, unser gemeinsames Verständnis von Politik zu entwickeln. Es war emotional überladen.

 Aber die knappe Mehrheit spielte schon eine Rolle?

R.: Wegen dieser knappen Mehrheit hat Wowereit gesagt: Ich will wissen, ob ich in entscheidenden stadtpolitischen Fragen in der Lage bin, mit den Grünen verlässliche Kompromisse zu schließen. Es bestand einfach ein höherer Bedarf an inhaltlicher Klarstellung. Da war die A 100 sicher der schwierigste Punkt, um die Glaubwürdigkeit zu prüfen, weil beide dabei viel zu verlieren hatten. Aber ohne eine glaubwürdige Klärung an diesem Punkt hätten wir es auch an anderen Punkten nicht geschafft. Mit einer satten Mehrheit hätten wir die Autobahnfrage auch zwei Jahre aufschieben können.

 W.: Für uns war klar, dass man Klaus Wowereit zu Rot-Grün zwingen musste. Am Mittwoch ist er nur noch reingegrätscht, als es um den Kompromiss ging. Ich habe den Wortlaut noch genau im Kopf. Er hat gesagt: Der Weiterbau der A 100 ist für uns nicht verhandelbar. Für uns war das die Rolle rückwärts.

 R.: Dann war es ein Missverständnis. Es ging doch längst nicht mehr um frühere Positionen.

 W.: Nee, das war kein Missverständnis. Damit würden wir es uns zu einfach machen. Wir haben uns gemüht, die SPD mühte sich, aber Klaus Wowereit macht diese Bemühungen zunichte.

 R.: Wowereit ist eine harte Nuss, gar keine Frage. Ich wundere mich, dass die Grünen so erstaunt darüber sind. Er ist eine harte Nuss, aber man kann mit ihm Kompromisse schmieden. Er musste einen Preis bringen, das hat er aus taktischen Gründen sehr spät getan, aber er hat es getan. Das Jahr 2014 als Baubeginn ging für ihn eigentlich über die rote Linie, weil einige Medien ihn sicher als Umfaller dargestellt hätten. Er hat es trotzdem getan.

 W.: Ich kann verstehen, dass die SPD-Linke die Geschichte gern so erzählt. Aber es war doch nicht nur die A100. Es gab viele andere Stellen, die Wowereit gerne zum Anlass genommen hätte, Rot-Grün an die Wand zu fahren.

 R.: Genau das ist eure Strategie: Ihr behauptet, dass er gar nicht wollte, damit das Scheitern für die Grünen erträglich wird. Ich ärgere mich sehr darüber, weil es nämlich hätte klappen können. Ich verstehe es nach wie vor nicht.

 W.: Mal sehen, vielleicht kriegen wir es ja beim nächsten Mal besser hin.

 

Das Gespräch führten Jan Thomsen und Regine Zylka.