Suche nach Anis Amri: Terrorverdächtiger wurde in Berlin über Monate observiert
Berlin - Die Belohnung, die die Bundesanwaltschaft am Mittwochabend aussetzte, ist hoch: 100.000 Euro verspricht sie in ihrem ausschließlich in Deutsch gehaltenen Fahndungsaufruf jenem, der die entscheidenden Hinweise zur Überführung des Mannes liefert, der am Montagabend einen gestohlenen polnischen Lastzug in die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz steuerte. Zwölf Menschen kamen ums Leben, 49 wurden verletzt, die Terrorgruppe Islamischer Staat bekannte sich zu der Tat. Seit Mittwoch fahndet die Polizei europaweit nach einem 24-Jährigen. Der Tunesier Anis Amri, der eigentlich abgeschoben werden sollte, ist den Sicherheitsbehörden lange bekannt. Sie hatten ihn aber aus den Augen verloren.
Jetzt ist der Mann wohl bewaffnet unterwegs, weshalb die Polizeiführung ihre Beamten zu äußerster Vorsicht anhält. Die Ermittler waren auf ihn gekommen, weil sie im Führerhaus des Lastwagens eine Duldung fanden, ausgestellt vom Landkreis Kleve (Nordrhein-Westfalen). Das Papier lautet auf die Personalien von Anis Amri, der aus der tunesischen Stadt Tataouine stammt. Dieser war in einem Flüchtlingsheim in Emmerich gemeldet. Amri gab diesen Namen bei seiner Registrierung als Flüchtling an, als er 2015 im badischen Freiburg nach Deutschland einreiste. Er benutzte mehrere Alias-Personalien, in denen er unterschiedliche Geburtsdaten angab. Er nannte sich auch Ahmed Almasri oder Mohammed Hassa. Seit Februar lebte er mit kurzen Unterbrechungen in Berlin.
Amri wurde vom Terrorabwehrzentrum bereits als „islamistischer Gefährder“ überwacht. Bundesweit sind das derzeit rund 550 Personen. Die Behörden trauen ihnen einen Terroranschlag zu und beobachten sie verstärkt – so zumindest die Anweisung. Anis Amri hatte Ermittlern zufolge Kontakte zum Dschihadisten-Netzwerk von Abu Walaa in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Walaa gilt als Führungsperson des IS in Deutschland und wurde im November zusammen mit vier mutmaßlichen Komplizen verhaftet. Bei einem dieser Komplizen soll Amri zeitweise gewohnt haben.
Dealer im Görlitzer Park
Bis zu ihrer Abschaltung am Donnerstag konnte man auf seiner Facebookseite sehen, welche Vorlieben er hat: etwa die Terrorgruppe Ansar al Scharia. Diese Organisation soll für den im Juni 2015 verübten Anschlag im tunesischen Port El-Kantaoui verantwortlich sein. Ein Attentäter schoss damals auf dem Badestrand vor dem Hotel mit einer Maschinenpistole um sich, 38 Menschen starben, auch der Attentäter kam ums Leben. Am 14. März leitete die Berliner Staatsanwaltschaft gegen Amri ein Verfahren ein, weil es Hinweise gab, dass er einen Einbruch plane, um an Geld für den Kauf automatischer Waffen zu kommen, möglicherweise, um damit später mit Mittätern einen Anschlag zu begehen.
Deshalb observierte die Polizei ihn und überwachte seine Telefone. „Die Überwachungsmaßnahmen lieferten Hinweise darauf, dass Amri als Kleindealer im Zusammenhang mit dem Görlitzer Park tätig sein könnte, sowie auf eine körperliche Auseinandersetzung in einer Bar, mutmaßlich aufgrund eines Streits in der Dealerszene“, so eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft. Die Überwachungsmaßnahmen hätten keine Hinweise erbracht, um den ursprünglichen Vorwurf zu verifizieren.
Auch das Landeskriminalamt von NRW überwachte Amri, weil es befürchtete, dass er einen Terroranschlag plante. Die Zeitung Die Welt berichtete, wegen Schreibfehlern in den Beschlüssen hätten sich Razzien verzögert, die dadurch ungültig waren. Dann verloren die Sicherheitsbehörden Amri aus dem Blick. Dazu wollte sich auch Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD) nicht äußern. Bei einer Pressekonferenz sagte er, dass Amri seit dem Sommer abgeschoben werden sollte. „Tunesien bestritt zunächst, dass er ein Staatsbürger dieses Landes ist und weigerte sich, Ersatzpapiere auszustellen“, sagte Jäger. „Zufälligerweise sind sie heute eingetroffen, ich will das nicht weiter kommentieren.“
Familie aus Tunesien vernommen
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sagte: „Der Verdächtige ist nicht zwingend der Täter. Es wird weiterhin in alle Richtungen ermittelt.“ Und so befragen Mitarbeiter des LKA derzeit in den Krankenhäusern die Verletzten und werten Filme aus Kameras und Handys aus. Mittlerweile gingen mehrere Hundert Zeugenhinweise bei der Polizei ein. Auch seine Familie in Tunesien wurde vernommen. Die Ermittler schließen aus, dass der Todes-Fahrer eine falsche Spur gelegt haben könnte, indem er das Personaldokument Anis Amri zurückließ. So sollen sich am Lenkrad des Sattelschleppers, den der Täter zuvor gekidnappt hatte, dessen Fingerabdrücke befinden. Sie wurden mit Fingerabdrücken abgeglichen, die die Behörden bei der erkennungsdienstlichen Behandlung der eingereisten Flüchtlinge gewonnen haben.
Die Obduktion der Leiche von Lukasz U., dem rechtmäßigen Fahrer des Lkw, ergab, dass dieser noch bis zum Attentat lebte. Im Führerhaus des Sattelschleppers kam es offenbar zum Kampf, dabei wurde Lukasz U. erschossen. Polizisten halten es für möglich, dass er dem Fahrer noch ins Lenkrad griff und so ein noch größeres Blutbad verhinderte. Nachdem der Lkw über den Weihnachtsmarkt gerast war, scherte dieser aus auf die Straße. (mit ziv.)