Thilo Mischke und das neue Jahr: Mehr Drogen nehmen, mehr Eisbären-Spiele sehen

Die Eltern wollen zum ersten Mal zu Union und den Eisbären, der Sohn will ungesünder leben. Nach einem Monat 2023 zieht unser Kolumnist eine erste Bilanz.

Sich Dinge aussetzen, die man noch nicht kennt: Spieler der Eisbären Berlin
Sich Dinge aussetzen, die man noch nicht kennt: Spieler der Eisbären BerlinIMAGO / Contrast

Und plötzlich springt mein Vater auf, reißt sich die Schiebermütze vom Kopf und wedelt damit. Meiner Mutter rutscht die Brezel aus der Hand, sie steht plötzlich neben mir. Die Handtasche vor dem Bauch wackelt. Beide Arme in der Luft, grobe Euphorie.

Und ich sitze zwischen meinen stehenden Eltern und wundere mich. Eine eigentümliche Melodie, Eisbären-Lied wird sie genannt, das erfahre ich später, scheppert durch die Lautsprecher. Meine Eltern beherrschen natürlich nicht den Text, murmeln aber trotzdem mit. Die Brezel hebe ich vom Boden auf und esse sie einfach weiter.

Meine Eltern und ich befinden uns in der Nähe der Warschauer Straße in einem Stadion. Ein neues Viertel in Berlin, ein Viertel, wie einer dieser gefährlichen Leberflecken, nur diesmal auf der Oberfläche dieser Stadt. Gefährlich, weil sich diese Viertel ausbreiten, gefährlich, weil sie diese Stadt sterben lassen. Naja.

Die Vorsätze meiner Eltern für 2023 haben uns hierhin geführt. Mehr Dinge tun, die keinen Spaß machen. Also, vermeintlich keinen Spaß machen, weil man es noch nie unternommen hat. Ich war noch nie im Stadion, meine Eltern auch nicht, also habe ich ihnen diese Karten geschenkt. Reihe zehn, Platz eins bis drei. Der Bruder kann ja gerade nicht, er übt sich im Vatersein.

An Orte reisen, die einem vielleicht nicht gefallen

Der Puck fliegt über das Eis, junge Männer mit Zahnlücken schubsen sich gegen Plexiglasscheiben. Alles findet in einer Geschwindigkeit statt, die mich verwirrt. Aber man geht ja ins Stadion für die Stimmung, nicht fürs Spiel. Haben mir meine sportbegeisterten Freunde erzählt. Für meine Eltern funktioniert es. Die Stimmung ist da. Auch wenn sie manchmal für das eine Team jubeln und dann für das andere. Auch wenn mein Vater mich nach 20 Minuten fragt, welches Team nun die Eisbären seien.

Ich bin neidisch, weil ich wie ein arroganter Schnösel zwischen ihnen sitze und einfach nicht begeisterungsfähig bin.

Andere Menschen wählen als Jahresvorsätze: mehr Sport, mehr gesunde Ernährung, mehr Bücher oder Kulturangebote nutzen. Grundsätzlich ist der Wunsch, ein besseres Leben zu führen, am größten, wenn die Tage besonders kurz sind. Meine Eltern wählen das Gegenteil.

Sie wollen nun zu Union-Spielen, möchten an Orte reisen, die ihnen möglicherweise nicht gefallen, und sehen sich gerade dieses Eisbären-Spiel an.

Ich finde das ausgesprochen modern. Ausgesprochen besonders. Und ich bin etwas neidisch, weil ich wie ein arroganter Schnösel zwischen ihnen sitze und einfach nicht begeisterungsfähig bin.

Meine Vorsätze für 2023 sind weniger freundlich, aber nicht weniger sonderbar: Ich will mehr Alkohol trinken, mehr Drogen nehmen, lockerer sein. Aber eigentlich wünsche ich mir noch mehr, dass alles so bleibt, wie es ist. „Bloß keine Veränderung mehr“ ist womöglich mein Hauptvorsatz.

Nach 70 Jahren Abstinenz mal LSD probieren

Während des Eisbären-Spiels erzähle ich meinen Eltern von meinen Vorsätzen, versuche, auch sie davon zu überzeugen,  jetzt, nach 70 Jahren (Vater) und 60 Jahren (Mutter) Abstinenz ruhig mal zu kiffen, LSD auszuprobieren oder unter dem Einfluss von Pilzen über Brandenburger Wiesen zu rennen.

Dann erzählt die Mutter, dass beide sich auch Sport vorgenommen haben.

„Keine Angst“, sage ich im tosenden Lärm beim 2:0 der Eisbären gegen die Straubingen Tigers. „Warum auch nicht?“, sagt meine Mutter und klatscht begeistert in die Hände. Ich höre meinen Vater irgendetwas mit „ZickeZacke“ sagen. Weder mein Vater noch meine Mutter wissen, wie die Spieler heißen, aber sie freuen sich für sie, als würden sie seit 50 Jahren zu den Spielen gehen.

Diese Bereitschaft zur Veränderung verwirrt mich. Ich scheine weniger flexibel als meine Eltern, und meine Vorsätze sind offensichtlich wesentlich selbstzerstörerischer.

Dann erzählt die Mutter, während Vater alkoholfreies Bier trinkt, dass sie sich natürlich auch Sport vorgenommen haben. Und besseres Essen: weniger Schwein, weniger Butter, weniger alles. „Damit ihr noch sehr lange beknackte Sportereignisse wahrnehmen könnt“, sage ich.

Ich erkenne, worum es eigentlich geht

Zwei Männer mit Eckkneipengesichtern stehen plötzlich auf dem Eisfeld und werfen Gummi-Enten in eine Badewanne. Das scheint ein Spiel zu sein, das auch meine Eltern langweilig finden. Ich atme schwer aus, der Abend zieht sich. Gähne, bin müde und weiterhin arrogant. 90 Minuten: drei mal 20 Minuten Spielzeit, dazwischen 15 Minuten Pausen. Dazu Extrazeiten.

Das einzige, was ich an diesem Abend lerne, ist, wie viel Zeit ein Eishockeyspiel verschlingt. „Ich habe keine Lust mehr“, sage ich zu meinen Eltern. Dann haken sie mich von beiden Seiten unter, und wir verlassen das Stadion, bevor das Spiel zu Ende ist.

„Ich hoffe, ihr nehmt es mir nicht übel“, sage ich. Meine Mutter guckt meinen Vater an. „Ach Quatsch“, sagt sie. „Wir haben ja noch Karten für das Spiel Kölner Haie gegen die Eisbären am Freitag.“ Mein Vater, er lächelt. Ich erkenne, dass er sich darauf freut. Und erkenne in diesem Moment, was der wirkliche Vorsatz meiner Eltern ist: Erkennen, worum es geht.