Wie soll man eine Welt aushalten, in der Chemikalien im Regen sind?
Die Chemikalien PFAS galten als Wundermittel, nun stellen sie sich als hochgiftig heraus. Sie sind aber längst überall. Wie leben wir damit weiter?

Die Neunzigerjahre erleben derzeit ein Revival. Ich gebe zu, das ist keine wahnsinnig neue Erkenntnis. Ich sehe die Moden auf den Straßen Berlins, mittelgescheitelte Jungs und Mädchen auf hohen Plateauschuhen. Seltsame Hosen, die Körper wie Brückenpfeiler erscheinen lassen. Bei den Erwachsenen dann sind es die Schnurrbärte und Zigaretten, an der Innenseite der Hand geraucht.
Wenn die Mode wieder modern ist, kommt auch die Lebenseinstellung hinzu, denke ich, als ich an einer Schule in der Bötzowstraße vorbeispaziere. Sie sehen aus wie renitente Jugendliche aus den 90ern, doch ihnen fehlt dieser hoffnungsvolle Blick, sich irgendwann die Freiheit leisten zu können, von der gerade alle sprechen. Jugendliche, die heute in Prenzlauer Berg zur Schule gehen, kennen den Preis der Freiheit.
Dieser Blick zeigt, sie tragen die Mode, aber nicht die Einstellung der Neunziger. Doch das, was sie jetzt brauchen, in dieser Welt von heute, ist das Egale, die Gleichgültigkeit der Jugend von früher, denke ich.
Lernen von jenen, die Mitte der Siebziger geboren wurden, die in den Neunzigern pubertär waren. Die wussten, wie es geht. Schulterzuckend hinein in die Ekstase, Kopfschüsse für Kurt Cobain und gleichzeitig fast zwei Millionen Besucher auf der Loveparade in Berlin. „Beavis and Butthead“ und „Boys don’t cry“.
Sie wühlen in den Erinnerungen ihrer Eltern und finden dort ein Gefühl von Sorglosigkeit.
Tod und Verderben in einer Zeit, in der alles möglich war. Das waren die Neunziger.
Und vermutlich ist auch das der Grund, warum die Kinder von heute eine so große Sehnsucht nach der Zeit ihrer Eltern haben. Die in den Siebzigern Geborenen haben nun Kinder, die in der Pubertät sind. Diese wühlen in den Schränken der Eltern und finden dort die T-Shirts und die Hosen, die Kassetten mit Backstreet-Boys-Musik, sie finden den Grunge dieser Generation und eignen ihn sich an. Ich kann das verstehen. Sie wühlen in den Erinnerungen ihrer Eltern und finden dort ein Gefühl von Sorglosigkeit. Sie gleichen ihre Jugend mit der ihrer Eltern ab. Während wir unsere Eltern noch überwinden wollten, will die aktuelle Jugend nur noch zurück in die vermeintlich bessere Welt von früher.
Nur schulterzuckend ist das hier, dieser Clusterfuck, den wir Menschheit nennen, auszuhalten. Ich will das kurz belegen.
Gerade habe ich eine Recherche abgeschlossen. Zu einer Chemikaliengruppe, PFAS nennt sie sich. Moleküle, die mit Fluorsäure zusammengeschweißt werden. Für die Ewigkeit. Unzerstörbar und deswegen praktisch. Sie machen die Welt fett - und wasserabweisend. Die berühmten Teflonpfannen, die Gore-Tex-Schuhe, ach, eigentlich alles, womit Flüssigkeiten transportiert werden oder was nicht schmutzig werden soll, wird mit diesen Chemikalien behandelt.
Eine feine Sache, ein Wundermittel. Dachten wir, dachten wir Menschen, dachte ich. Nun stellt sich heraus: PFAS können Krebserkrankungen auslösen, sind doch gefährlich, sind sogar richtig furchtbar. Nicht nur stellen wir fest, dass eine der weitverbreitetsten Chemikaliengruppen der Welt hochgiftig ist, wir stellen auch fest: Die Produzenten wussten davon schon seit mindestens 50 Jahren. Wenn es diesen Sommer regnet und wir die Tropfen mit unseren Zungen fangen, sollten wir wissen: Diese Chemikalien sind mittlerweile auch in unserem Regenwasser.
Wie soll man diese Welt nur noch aushalten. Ich gräme mich selbst, schäme mich, dass ich hier, in dieser Kolumne, nicht öfter Berliner Folklore zelebriere, sondern immer häufiger auf die Düsternis unseres Schaffens hinweise.
Wegen dieser Kriege, dieser Vergiftungen, wegen dieses Schmutzes, wegen all dieses Leids mache ich mir allerdings auch oft Sorgen um die Generation der Verursacher.
Manche nennen sie Boomer, ich nenne sie: unsere Eltern. Ich mache mir Sorgen, dass sie an ihrer eigenen Unwissenheit zerbrechen. Sie sind traurig. Sie werden immer trauriger, weil sie aufwachen aus diesem unruhigen Traum namens Wachstum. Sie haben den Bogen überspannt und sind verwirrt, dass die Jungen sich, wie eine letzte Generation, nun an das Leben klammern.
Thilo Mischkes Reportage „Die tödliche Chemikalie PFAS“ läuft am Montag, 6. März, um 20.15 Uhr auf ProSieben und auf Joyn.