Tod am 2. Juni 1967 in Berlin: Der Tag, an dem Benno Ohnesorg in Berlin starb

Berlin - Hier fiel der Schuss. Auf den ersten Blick hat sich wenig verändert am Tatort. Der Innenhof dient noch immer als Parkplatz. Er ist zur Straße hin offen, sein vorderer Teil wird von einem Wohngebäude auf Betonpfeilern überdacht. An den Fassaden hinten und rechts im Hof wuchern Büsche. Ein Schild an einem Pfeiler warnt: Dieser Bereich wird videoüberwacht! Vor 50 Jahren hätte so eine Überwachung die Ermittlungen erleichtert: Widersprüche geklärt, Zweifel ausgeräumt, vielleicht die Geschichte verändert.

Hier also fiel Benno Ohnesorg. Der Parkplatz nahm damals nicht den ganzen Hof ein. Hinten grünte Rasen. Die Büsche waren so niedrig, dass die Mieter im Erdgeschoss den Hof überblicken konnten. 

Der Tod von Benno Ohnesorg veränderte Deutschland

Am Abend des 2. Juni 1967 lag Ohnesorg auf diesem Hof an der Krummen Straße in Charlottenburg, eine Kugel im Kopf, abgefeuert vom Polizisten Karl-Heinz Kurras. Zuvor hatte der 26-jährige Student vor der Deutschen Oper, die um die Ecke liegt, gegen den Besuch des Schahs in West-Berlin demonstriert. Sein Tod veränderte die Bonner Republik.

War Ohnesorgs Tod die Folge unglücklicher Umstände oder das Resultat eines ausgeklügelten Plans? War Kurras’ Schuss fahrlässige Tötung, Totschlag, Mord? Eine Rekonstruktion der folgenschweren Ereignisse mit Hilfe von Wort-, Bild- und Filmdokumenten sowie Zeitzeugen.

West-Berlin ist am 2. Juni 1967 im Ausnahmezustand

West-Berlin, 2. Juni 1967, Flughafen Tempelhof, 11 Uhr. Kaiserwetter, aber der Kaiser lässt auf sich warten. Der Regierende Bürgermeister, eine Hundertschaft der Schutzpolizei und Hunderte Schaulustige müssen sich gedulden. Die Sondermaschine „Nürnberg“, eine Boeing 727 der Pan Am, verspätet sich.

So strahlend blau der Himmel, so bewölkt die Gedanken derer, die für die Sicherheit des Kaisers von Persien verantwortlich sind. Schah Mohammad Reza Pahlavi und seine Gattin Farah Diba besuchen auf Einladung des Bundespräsidenten Deutschland. Berlin ist die achte von zehn Etappen. Es gilt Sicherheitsstufe I.

11.10 Uhr: Der Schah von Persien landet in Berlin

In West-Berlin sind 5000 Polizisten im Einsatz, darunter 88 Kriminalbeamte der Abteilung I, der Politischen Polizei. Als Polizisten sind die Einser nicht zu erkennen. Sie tragen Sommeranzüge. Und darunter ihre Dienstwaffe, eine Walther PPK, Kaliber 7,65.

11.10 Uhr. Die Boeing, aus München kommend, landet. Es folgen: Begrüßung des Kaisers durch Bürgermeister Heinrich Albertz (SPD), Abspielen der Nationalhymnen, Abschreiten der Ehrenbereitschaft, Austausch von Höflichkeiten, Fahrt ins Hotel, der Schah in einem Mercedes 600, seine Gattin in einem zweiten.

Bundesweit sichern 30.000 Polizisten den Schah. Dazu kommen Feuerwehrleute und Sanitäter, Hubschrauber- und Ärzteteams, die im Fall eines Attentats bereitstehen. Alle Strecken, die der hohe Besuch nutzt, sind weiträumig gesichert: Straßen und Kreuzungen, Brücken, Bahnübergänge und Lufträume. Die Behörden kontrollieren und observieren Hunderte Personen. Es ist ein totaler Staatsbesuch.

Der Schah polarisiert

Für die westlichen Regierungen ist der Schah ein unverzichtbarer Bündnispartner. Sie begrenzen mit ihm den kommunistischen Einfluss im Nahen Osten und machen lukrative Ölgeschäfte. Daher unterstützen CIA und MI6, die Auslandsgeheimdienste der USA und Großbritanniens, den Schah beim Sturz des rücktrittsunwilligen Premierministers Mohammad Mossadegh 1953.

Der Großteil der westdeutschen Öffentlichkeit sieht in dem Mann auf dem Pfauenthron einen märchenhaften Kaiser, der „eine Lücke im deutschen Bürgersinn schließen hilft“, wie Roman Brodmann in seiner 1967 gedrehten Dokumentation „Der Polizeistaatsbesuch“ spöttelt. Andere halten den Schah für einen willigen Statthalter der USA sowie für einen folternden und mordenden Diktator. 

„Als wäre er unser bester Freund“

Bernhard Wilhelmer gehörte zu den anderen. Damals studierte er an der Freien Universität (FU) Berlin und war zweiter Vorsitzender des Allgemeinen Studierendenausschusses (AStA). Der 72-Jährige, er ist Professor der Psychologie, sitzt an einem Konferenztisch in der Redaktion der Berliner Zeitung. „Es ging uns weniger um die USA und ihren Vietnamkrieg und ihre Unterstützung des Schahregimes. Wir waren der Meinung, dass eine Stadt wie Berlin einem derartigen Diktator keinen so wahnsinnigen Empfang bereiten sollte, als wäre er unser bester Freund.“

Der Empfang bereitet den Gastgebern Kopfzerbrechen. Dazu gehört eine Veranstaltung an der FU am 1. Juni, organisiert vom AStA und der „Freunde der Publizistik“, eine akademische Vereinigung, der auch Wilhelmer angehört. Der Exil-Iraner Bahman Nirumand spricht im Auditorium maximum über sein neues Buch „Persien. Modell eines Entwicklungslandes oder die Diktatur der Freien Welt“.

Nirumand, promovierter Germanist, ist im Vorstand der Konföderation Iranischer Studenten/Nationale Union (CIS/NU), die er mitbegründet und die sich zu einem Dachverband der Auslandsopposition entwickelt hat. Die Botschaft des Irans hatte die Bundesregierung aufgefordert, das Buch zu verbieten. Vergeblich. Sie drohte, den Besuch abzusagen, sollte Nirumand auftreten; der Senat drängte daraufhin den Rektor der FU und den AStA, die Veranstaltung abzusagen. Auch vergeblich.

Schah-kritische Veranstaltung an der FU Berlin

Das Audimax ist bis auf den letzten Sitz-, Hock- und Stehplatz besetzt, als Nirumand spricht. Er schimpft auf den Schah und die Militärtribunale, die Geständnisse durch Folter erzwingen und Todesurteile fällen, auf den Imperialismus und die Ölkonzerne und fordert Solidarität mit den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt.

Am Rednerpult kleben zwei Flugblätter mit dem Gesicht des Schahs. Über dem Foto steht „MORD“, darunter „Gesucht wird …“. Der Steckbrief ist eine Idee der Kommune I, die mit realsatirisch-provokanten Aktionen von sich reden macht. Am Ende des Blatts heißt es: „Wir bitten die Bevölkerung, alle Aktionen, die zur Unschädlichmachung des Täters führen, tatkräftig zu unterstützen.“ Spaßguerilla. Aber wo endet der Spaß, wo beginnt die Guerilla, der Kleinkrieg?

„Autonomie für die Teheraner Universität!“

Benno Ohnesorg ist im Audimax zugegen. Mit Gewalt will er, den Weggefährten als feinsinnig, sanft und zurückhaltend beschreiben, nichts zu tun haben. Der Student der Romanistik und Germanistik, der Gymnasiallehrer werden will, ist Mitglied der Evangelischen Studentengemeinde.

Als politisch Interessierter hat er Nirumands Buch gelesen; politisch aktiv ist er so gut wie nicht. Er entscheidet sich, an den Protesten gegen den Schah teilzunehmen. Mit seiner Frau Christa fertigt er ein Spruchband an: „Autonomie für die Teheraner Universität!“ Die beiden sind seit fünf Wochen verheiratet, sie erwarten im November ein Baby.

„Die Veranstaltung machte Eindruck, sie brachte am nächsten Tag mehr Studenten auf die Straße“, sagt Bernhard Wilhelmer. „Die Oper war der Ort, wo wir unseren Protest am lautesten vortragen wollten. Ich hatte die Demonstration angemeldet und war erstaunt gewesen, dass sie nicht verboten wurde.“ Er macht eine kurze Pause, sagt dann leise, mehr zu sich selbst: „Vielleicht sollten wir in eine Falle laufen.“

11.30 Uhr: Der Schah ist auf dem Weg ins Hotel

11.30 Uhr. Der Schah ist auf dem Weg ins Hilton an der Budapester Straße (heute: Intercontinental). Ein US-Hubschrauber rotiert über der Spitze der Fahrzeugkolonne. Die Gäste, 60 Personen, sollten im Kempinski am Kurfürstendamm residieren. Die Sicherheitsbehörden rieten davon ab, weil in jüngster Zeit immer wieder mal junge Leute auf dem Kudamm demonstrieren.

Was die Leute auf die Straße treibt: die geplanten Verfassungsänderungen, die den Regierenden für den Fall eines Notstands mehr Macht zukommen lassen – sie wecken böse Erinnerungen an die Unterhöhlung der Weimarer Republik und Machtebnung der Nazis; der antiegalitär-autoritäre Gesellschaftsaufbau; das spießige Gebaren der Eltern; das beharrliche Schweigen über die Nazizeit; die vorbehaltlose Unterstützung der USA; dazu hochschulinterne Konflikte wie Zulassungsbeschränkungen, Begrenzung der Studiendauer, Gestaltung der Lehrveranstaltungen.

Die Polizei sieht sich konfrontiert mit neuen Formen des Protests: Sit- und Teach-ins, Eierwürfe gegen das Amerika-Haus im Februar 1966, Aufruf von Rudi Dutschke vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) zur „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) im Dezember 1966, „Pudding-Attentat“ der Kommune I gegen den US-Vizepräsidenten im April 1967.

Paramilitärische Polizei

Im West-Berlin jener Jahre erfüllt die Bereitschaftspolizei auch paramilitärische Aufgaben. Sie gilt als Reserve der alliierten Truppen, ausgerichtet auf die Abwehr kommunistischer Gefahren. Ende Dezember 1966 verschärft sie ihr Vorgehen. Bei der „Spaziergangs-Demonstration“ auf dem Kudamm setzt sie erstmals „Greiftrupps“ ein: Beamte in Zivil greifen sich „Rädelsführer“ und „Füchse“, Demonstranten, die mit Trillerpfeife Sprechchöre dirigieren. Der Einsatz eskaliert zu einer Prügelei, auch gegen Passanten.

Ebenfalls Ende 1966 gibt es neue Bestimmungen über den Schusswaffengebrauch, erlassen nach Zwischenfällen mit DDR-Grenzern an der Mauer: Die Beamten sind geradezu verpflichtet, in Notwehrsituationen die Waffe zu ziehen. Bernhard Wilhelmer, der frühere Studentenvertreter, hat zum Gespräch etwas mitgebracht. Da ist zum einen eine Spiegel-Ausgabe vom 5. Juni 1967 mit der Titelgeschichte „Die aufsässigen Studenten von Berlin“. Das Titelfoto zeigt ihn mit Dutschke bei einem Sit-in im April 1967 in der FU.

Rechts-orientierte Presse machte Stimmung gegen Studenten

Und dann hat er noch ein Buch über die Studentenbewegung dabei, das 1977 erschien und in dem er sagt: „Die relativ frühe Entwicklung der Studentenbewegung in West-Berlin resultierte aus den besonderen ökonomischen und politischen Bedingungen in dieser Stadt.“ Als da waren: „eine labile soziale Situation“ durch Betriebsverlagerungen in den Westen und „die spezielle politische Brisanz als ,Frontstadt’“, als „Brückenkopf des freien Westens“.

Berlin-Blockade, Mauerbau und eine politisch rechts orientierte Presse, die Studenten für Krawallmacher und Kriminelle hält, kurz: für Kommunisten, schüren Ängste. „Mein Vater fürchtete permanent, dass ,die Russen’ wieder alles dichtmachen; und er war damit nicht allein“, sagt Wilhelmer. „Wir hörten oft: ,Geht doch rüber!’ Keiner von uns wollte rüber, in die DDR.“

Eine Lizenz zum Draufhauen

West-Berlins Polizeipräsident Erich Duensing (SPD) schreibt in einem Brief an Innensenator Wolfgang Büsch (SPD) am 13. April 1967 von einem „Studentenkrieg“, der nur mit Staatsanwälten und Gerichten zu bewältigen sei. Büsch dagegen spricht sich in seiner Antwort am 8. Mai für mehr Polizei aus. Und: Die Beamten müssten „stets die Gewissheit haben, dass ihre Vorgesetzten auch dann für sie eintreten, wenn sich bei der nachträglichen taktischen und rechtlichen Prüfung Fehler herausstellen sollten“. Eine Lizenz zum Durchgreifen und Draufhauen.

12 Uhr am Rathaus Schöneberg

12 Uhr, Rathaus Schöneberg. Hanns-Peter Herz, Pressesprecher des Senats, wartet mit Journalisten auf der Rathaustreppe auf den Schah. Vor ihm, auf dem John-F.-Kennedy Platz, hinter „Hamburger Reitern“, Barrieren aus Metall, drängen sich bis zu 3000 Demonstranten und Schaulustige. Einige haben sich Papiertüten mit Karikaturen des Schahs und seiner Gattin über den Kopf gestülpt. Herz ist gereizt. Wie er sich denn so fühle, fragt jemand. „Na, heute können diese Burschen sich auf was gefasst machen, heute gibt’s Dresche!“ Überliefert ist auch der Satz: „Heute Abend setzt’s Keile!“ Er wird bestreiten, so etwas gesagt zu haben.

Prügel-Perser warten schon

Auf einem abgesperrten Teil am Rathaus stehen Gegendemonstranten: ein paar Dutzend Vertreter der „Iranischen Kolonie“ in Berlin, ausgewählt von der kaiserlich-iranischen Delegation. Der Polizeipräsident hat den „Jubelpersern“, wie sie später genannt werden, diesen Platz freigehalten.

Plakate und Spruchbänder tanzen: „Schluss mit den Folterungen politischer Gefangener!“ – „Es lebe die deutsch-iranische Freundschaft!“ Sprechchöre hallen: „Mörder, Mörder!“ – „Hoch lebe der Schah!“

12.18 Uhr. Der Schah fährt vor. An der Seite von Bürgermeister Albertz schreitet er die Rathaustreppe hoch. Sie haben kaum das Rathaus betreten, da sind Barrieren, die Demonstranten und Gegendemonstranten trennen, plötzlich geöffnet. Mehrere Anzug tragende Männer aus der schah-freundlichen Gruppe sind ebenso plötzlich bewaffnet, mit Holzlatten, an denen eben noch Plakate hingen, und mit Totschlägern.

Wurden die Prügel-Perser vom 2. Juni 1967 extra eingeflogen?

Die Männer schlagen mit weit ausholenden Bewegungen zu, einhändig und beidhändig, von rechts und von links, als sensten sie Grashalme, und von oben, als hämmerten sie Ambosse. Benno Ohnesorg sieht, wie der Protest eskaliert. Mit anderen Demonstranten setzt er sich auf Straßenbahnschienen. Passiver Widerstand.

Die Polizei bequemt sich nach drei, vier Minuten einzuschreiten. Beamte, auch zu Pferde, gehen aber nicht gegen „Prügelperser“ vor, sondern gegen Demonstranten. Die Perser wiederum nehmen Demonstranten fest und führen sie der Polizei zu. Das Getöse dringt bis ins Amtszimmer des Bürgermeisters, wo sich der Schah ins Goldene Buch der Stadt einträgt. Albertz ist irritiert.

„Ich habe bis heute nicht klären können“, schreibt Albertz in seinen Erinnerungen, „wer die Mitverantwortung für diese Gewalttaten trug. Natürlich SAVAK. Aber die musste Sonderflugzeuge gebucht haben. Wusste das AA (Auswärtiges Amt, Anm. d. Red.) davon? Der Bundesnachrichtendienst?“ SAVAK – das ist die persische Geheimpolizei. Wurden tatsächlich Schläger eingeflogen? Beweise gibt es nicht. Außer Frage steht, dass auch Geheimdienstler vor dem Rathaus zuschlugen. Die Ermittlungen dazu wurden eingestellt.

Kampf an mehreren Fronten

Bernhard Wilhelmer, der Studentenvertreter, sieht, wie die „Prügelperser“ zulangen; er bleibt unverletzt, weil er weiter hinten steht. Hatte er mit Gewalt gerechnet? Wilhelmer neigt seinen Kopf, als belaste ihn die Erinnerung, und stützt ihn auf seine Hand. „Nein.“ Er atmet tief durch. „Es war von uns aus eine ganz friedliche Geschichte.“ Und plötzlich hätten sich „mehrere Fronten“ aufgetan: der unangemessene Schah-Besuch, die prügelnden Perser, „auf die wir einfach nicht vorbereitet waren“, und die Polizei, „die keinen Finger krümmte, um uns zu schützen. Das war ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte“.

Der später eingesetzte parlamentarische Untersuchungsausschuss wird das Verhalten der Polizei am Rathaus scharf kritisieren. Das Kommando der Schutzpolizei wird die Kritik für „berechtigt“ halten und zugleich abschwächen: „Die Vorfälle wurden jedoch im Hinblick auf die weiteren Ereignisse des Tags über Gebühr ,hochgespielt’“. Diese Stellungnahme befindet sich im Archiv der Polizeihistorischen Sammlung Berlin am Platz der Luftbrücke.