Tödliche Unfälle: Kann ich meine Kinder noch mit dem Rad durch Berlin fahren lassen?

Das Wort, mit dem ich jeden Morgen meine beiden Töchter verabschiede, ist nicht „tschüss“ oder „macht’s gut“, es ist „Schulterblick!“. Manchmal vergesse ich es an der Haustür, dann rufe ich es in den Hof hinunter, wo sie dabei sind, ihre Fahrräder aufzuschließen. Dass sie die Augen verdrehen, sehe ich auch vom Küchenfenster im dritten Stock. „Nerv nicht, Mama!“, kommt es manchmal zurück. Die beiden sind 11 und 15. Anfangs habe ich sie auf dem Schulweg begleitet, sie in die Verkehrsregeln eingewiesen, seit ein paar Jahren fahren sie allein.

Am Mittwochmorgen ist in Spandau ein Junge überfahren worden, er war acht Jahre alt. Es war halb acht, das Kind muss auf dem Weg zur Schule gewesen sein. Ein Lkw hat ihn übersehen, der Wagen bog nach rechts ab, das Kind wollte geradeaus. Der Klassiker. Mein Alptraum. Als ich die Nachricht las, traten mir Tränen in die Augen, so wie am Tag zuvor schon. Eine 13-Jährige kam unter eine Straßenbahn. Auch sie lebt nicht mehr. Es gibt nichts Schlimmeres für Eltern.

Lieber in den Bus setzen

Nach einem solchen Unfall stelle ich mir jedes Mal die Frage, ob ich es verantworten kann, meine Kinder mit dem Rad durch Berlin fahren zu lassen. Ob ich ihnen nicht lieber eine Jahreskarte der BVG kaufe. Dann müsste ich solche Gedanken nicht mehr haben, wie sie mir morgens beim Abräumen des Frühstückstischs manchmal kommen: Dass gleich das Telefon klingeln könnte, und die Polizei wäre dran.

Ich kann Eltern verstehen, die sich entscheiden, ihr Kind lieber in den Bus zu setzen. Nicht verstehen kann ich die, die es mit dem Auto bringen. Das sorgt für ein Chaos vor dem Schultor, das die Kinder gefährdet, die zu Fuß oder mit dem Rad kommen. Aber es werden wohl immer mehr. Der Bewegungsradius von Kindern hat extrem abgenommen, 1970 haben sich 91 Prozent der Grundschüler in Deutschland allein auf den Schulweg gemacht, 30 Jahre später waren es nur noch 50 Prozent.

Ich habe mich bis jetzt nach jedem Unfall dafür entschieden, meine Kinder weiter mit dem Fahrrad fahren zu lassen. Die Selbstständigkeit, die sie dadurch gewinnen, ist für mich ein hohes Gut. Auch das bisschen Bewegung, das sie kriegen, bevor sie den ganzen Tag auf der Schulbank sitzen.

Parken in zweiter Reihe

Der Verkehr ist ein vernetztes System, in dem komplexe Zusammenhänge wirken. Jeder Teilnehmer ist nicht nur für seine eigene Sicherheit verantwortlich, sondern auch für die der anderen. Kaum irgendwo anders als auf der Straße merkt man so unmittelbar, dass man voneinander abhängig ist, dass man einander vertrauen können muss. Rücksichtslosigkeit ist überall fehl am Platz, aber auf der Straße kann sie dazu führen, dass Menschen verletzt werden.

In Berlin sieht es, was Rücksichtnahme angeht, nicht gut aus. Ich bin selbst mit dem Rad unterwegs und merke täglich, wie voll die Stadt geworden ist, wie viel aggressiver es im Verkehr zugeht. Es wird gerast, auch von Radfahrern. Manchmal kann man sich nicht darauf verlassen kann, dass Verkehrsregeln eingehalten werden. Da fahren Rad- und Autofahrer noch über die rote Ampel, wenn die Fußgänger schon Grün haben. Das Parken in zweiter Reihe ist zur Selbstverständlichkeit geworden, obwohl es Radfahrer zu gefährlichen Ausweichmanövern zwingt.

Keine einfachen Lösungen

Kreuzungen sind zugeparkt und somit unübersichtlich. Warum kontrolliert die Polizei da nicht mehr? – Auch die Technik kann beitragen. Längst sind nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Warum sind Abbiegeassistenten für Lkws nicht Pflicht, die den Fahrer warnen und im Notfall ohne sein Zutun bremsen? Man muss befürchten, dass das so ist, weil sie viel Geld kosten. Kann das wahr sein? Immerhin hat Berlin eine Initiative im Bundesrat gestartet, mit der Forderung, dieses System europaweit einzuführen. Es wird aber dauern.

Der Verkehr ist kein Zusammenhang, in dem es angebracht ist, mit dem Finger grundsätzlich auf die anderen zu zeigen. Einfache Lösungen gibt es nicht. Es gibt aber starke und schwache Glieder in diesem Netz. Und Kinder, die zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sind, sind das schwächste. Für sie muss alles getan werden. Jedem, der sich in den Verkehr begibt, rufe ich „Kinder!“ hinterher.