Berliner Psychologin: „Es gab bisher keinen Tag ohne eine lange Warteschlange“

Das Zentrum Überleben unterstützt kriegstraumatisierte Geflüchtete. Eine Psychologin erzählt, welche Hilfe Menschen aus der Ukraine noch brauchen.

Eine geflüchtete Familie auf dem Gelände der Erstaufnahmeeinrichtung des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) in Reinickendorf
Eine geflüchtete Familie auf dem Gelände der Erstaufnahmeeinrichtung des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) in Reinickendorfdpa

Es ist nun mehr als ein Jahr her, dass die russische Invasion in der Ukraine acht Millionen Menschen zur Flucht ins Ausland veranlasste. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums wohnen mittlerweile 1,1 Millionen von ihnen in Deutschland; viele davon wurden bei ihrer Flucht Zeugen von schrecklichen Todesfällen, schweren Schäden an der zivilen Infrastruktur – und erlebten das Trauma, ihr Zuhause und ihre Verwandten zurücklassen zu müssen. Nun sind sie in einem Land angekommen, in dem es bekanntermaßen schwierig sein kann, psychologische Hilfe zu erhalten – selbst für die, die keinen Krieg erlebt haben.

Das Zentrum Überleben, das seinen Sitz in Berlin-Mitte hat, betreut jedes Jahr rund 600 Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit unterschiedlichen Flucht- und Migrationserfahrungen aus über 40 Ländern psychologisch und medizinisch. Katrin Boztepe, eine Psychotherapeutin des Zentrums, hat das Angebot für Geflüchtete aus der Ukraine und deren Unterstützer mit aufgebaut und erzählt im Interview, wie Traumatisierte wieder Stabilität erlangen können und ob Berlin die Kapazität hat, alle ihre Bedürfnisse zu erfüllen.

Frau Boztepe, welche Unterstützung bietet das Zentrum Überleben ukrainischen Geflüchteten und deren Helfern?

Als der Krieg in der Ukraine losging, war klar, wir müssen unbedingt Angebote für die Geflüchteten selbst schaffen, und wir haben eine spezifische E-Mail-Adresse eingerichtet, damit sie sich an uns wenden können. Wir haben aber dann über die Zeit gemerkt, es sind eher die Helfenden, die Geflüchtete betreuen oder aufgenommen haben, die wir stützen können. Vor allem Ehrenamtliche, die in völlig anderen Berufen arbeiten und sonst nie Berührungspunkte mit Kriegsgeflüchteten hatten, müssen wissen, was Trauma ist und wie es sich in Erwachsenen und Kindern äußert. Aber es geht auch um Selbstfürsorge. Es ist wichtig für sie, zu hören, dass sie sich abgrenzen dürfen, wenn ihnen ein Burnout droht. So können sie länger Hilfe leisten, und das hilft uns auch, noch mehr geflüchtete Menschen zu erreichen. Wir haben auch Teilteams, die speziell etwa mit Fachpersonal aus der Ukraine arbeiten, die geschult werden, damit sie dann wiederum in Berlin helfen können.

Was für Unterstützung brauchen normalerweise die Geflüchteten aus der Ukraine, wenn sie sich bei Ihnen melden?

Die Menschen aus der Ukraine sind selbst noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt als mit der Frage, ob sie jetzt eine Traumatherapie machen. Unsere Arbeit rund um das Thema Ukraine ging immer darum, die Menschen zu therapieunabhängigen Themen zu beraten und an andere Institutionen weiterzuvermitteln, damit sie überhaupt Stabilität erfahren können. Ohne Stabilität kann man nicht traumafokussiert arbeiten. Für eine traumatherapeutische Behandlung ist es also für die Geflüchteten aus der Ukraine noch nicht der richtige Zeitpunkt. Sie wollen eher wissen: Wo kann ich mich anmelden, wo finde ich eine Wohnung, wo bekomme ich finanzielle und medizinische Unterstützung, wo kann ich mein Kind einschulen? Menschen mit ganz anderen Erkrankungen als psychiatrischen Beschwerden, wie etwa Krebs, wollen wissen, wo sie jetzt hingehen können. Da haben wir immer an die Expert:innen verwiesen – damit sie schnellstmöglich diese Stabilität finden.

Zur Person
Katrin Boztepe ist psychologische Psychotherapeutin und Verhaltenstherapeutin und seit 2020 angestellt im Zentrum Überleben, aktuell in der ambulanten Abteilung für die traumatherapeutische Behandlung von Erwachsenen. Das Zentrum Überleben wurde 1992 als Behandlungszentrum für Folteropfer gegründet, um Menschen mit Erfahrung von Kriegsgewalt medizinische, psychotherapeutische, sozialarbeiterische und integrative Unterstützung zu bieten. 

Was für psychologische Beschwerden kommen neben diesen ganzen Sorgen unter Geflüchteten häufig vor, nach einem Trauma durch Krieg? Und wie wahrscheinlich ist es, dass diese Menschen auch längerfristig psychologische Unterstützung brauchen werden?

Trauma ist erst mal eine ganz normale Reaktion auf ein abnormales Ereignis wie Krieg. Man kann aber nicht immer sofort von einer Traumasymptomatik sprechen, weil auf Krieg die allermeisten Menschen irgendwie reagieren – zum Beispiel mit Angst etwa vor lauten Geräuschen, mit Albträumen, mit Wut, mit Schlaflosigkeit, mit Erschöpfung, mit Stress, mit Anspannung. Ob das dann eine Traumasymptomatik ist, zeigt erst die Zeit. Nicht jeder entwickelt eine Traumafolgestörung, nur weil er oder sie ein Trauma erlebt hat. Erst wenn die Beschwerden nach einer gewissen Zeit nicht abklingen und eine erhebliche negative Belastung auf das Leben hervorrufen, kann man dann von einer Traumasymptomatik sprechen. Selbst dann reicht manchmal eine Kurzzeittherapie. Jeder Mensch erlebt das unterschiedlich.

„Berlin fehlen die Kapazitäten, Opfer von sexualisierter Kriegsgewalt zu unterstützen“

Der Großteil der Geflüchteten aus der Ukraine besteht aus Frauen und Kindern. Das ist anders als bei anderen Fluchtbewegungen der letzten Jahre. Welche Beschwerden erleben diese Gruppen insbesondere?

Schuldgefühle werden sehr oft Thema – zum Beispiel wenn eine Frau ihren Mann, ihren Bruder und ihren Vater zurücklassen musste oder eigentlich gar nicht gehen wollte, aber der Vater oder Bruder gesagt hat: „Geht, auch wenn ich nicht mitgehen kann.“ Ich erinnere mich schon an viele Vermittlungen an Erziehungsberatungsstellen für Mütter mit Kindern, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben.

Der Krieg in der Ukraine ist von einem ziemlich hohen Ausmaß an sexualisierter Gewalt geprägt. Gibt es in Berlin ausreichende Kapazitäten, um die für diese Art von Trauma erforderliche Unterstützung zu gewährleisten?

Nein. Nicht für Frauen, nicht für Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, nicht für Geflüchtete, nicht für Menschen egal welcher Herkunft, die überhaupt psychische Unterstützung suchen. Es gibt grundsätzlich nicht genug Kapazitäten, und Zugehörigkeit zu einer Minderheitengruppe macht es noch mal schwerer, irgendwo anzukommen. Je vulnerabler die Gruppe und je spezifischer die Unterstützung, die gebraucht wird, umso schwieriger ist es.

Das Zentrum Überleben ist eine von wenigen Stellen, die spezifische Hilfe mit Sprachmittlung anbietet – das ist sehr oft in der Regelversorgung ein Problem. Da fehlt manchmal auch die Fachkompetenz, Patient:innen mit Flucht und Trauma als Themen aufzunehmen. Das bezieht sich nicht nur auf Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, sondern auf alle Geflüchteten. Seitdem ich im Zentrum arbeite, habe ich keinen Tag erlebt, an dem es keine Warteliste gab. Das berichten auch Kolleg:innen, die schon 25 Jahre da sind, in anderen Zentren ist es wahrscheinlich ganz ähnlich. Das zeigt einfach, was für ein großer Bedarf da ist.

Wir haben gerade den ersten Jahrestag der Invasion in der Ukraine erlebt, für viele Geflüchtete jährt sich also auch bald der Tag der Flucht selbst. Was für Probleme können solche Tage für betroffene Menschen aufwerfen?

Wir betreuen immer wieder Patient:innen, nicht nur aus der Ukraine, die eine ganz klare Verschlechterung ihrer Symptomatik erleben, wenn sich dramatische Ereignisse jähren, manchmal noch Jahre danach. Es macht auch was mit den Menschen, dass alle drumherum dieses Themas müde werden: Jetzt geht dieser Angriffskrieg schon ein Jahr, die Berichterstattung hat sich verändert – so gewöhnen wir uns immer wieder an Krisen. Jetzt war gerade der Jahrestag, man hörte plötzlich viel mehr über den Krieg, auch in den Medien, und dann wird es wieder abflachen. Auch das haben viele im Hinterkopf – dass sie mal mehr gesehen werden, mal weniger. Gleichzeitig kann man jetzt nicht pauschal sagen, dass solche Tage irgendwie für alle besonders schwer sind. Auch gestern war es schwer für diese Menschen.

Was können Sie vorschlagen, damit die Menschen, die diese Tage schwer erleben, ein bisschen leichter damit umgehen können?

Ich sage meinen Patient:innen oft, dass es wichtig ist, damit nicht alleine zu sein. Für viele, die bei uns ankommen, ist das der erste Ort, wo sie ihre Lebensgeschichte erzählen und sich entlasten. Sie lassen es für sich zu, wütend, traurig oder ängstlich zu sein, das darf alles sein – und es ist manchmal leichter, dabei nicht mit den Gedanken und Gefühlen und den eigenen Erlebnissen und Belastungen allein zu bleiben. Ich wünsche einfach allen Menschen viel Kraft für solche Tage und alle Tage, die dann folgen.

Wie blicken Sie auf das letzte Jahr und die Herausforderungen, die es mitgebracht hat, zurück?

Ich glaube, dass das Zentrum Überleben schon einen guten Beitrag mit seiner Haltung und seinen Hilfsangeboten geleistet hat, ob für die Geflüchteten selbst oder für die Helfenden. Aber es ist auch irgendwie nicht genug. Dieser Krieg ist eine Menschenrechtsverletzung, die wir kaum auffangen können – wir können immer nur reagieren und das Leid geht trotzdem halt weiter. Es ist dann manchmal schwierig, Perspektiven zu bieten. Es wird immer noch Menschen geben, die um ihre Familienmitglieder bangen, die um ihre eigene Existenz bangen.

„Für Krisen wie Krieg und andere Katastrophen können wir nicht üben“

Wie geht es jetzt nach einem Jahr weiter für Sie? Kann es dem Zentrum Überleben auf Dauer gelingen, diese Patient:innen weiterhin zu vermitteln und die volle Unterstützung zu bieten, die sie brauchen? 

Das Zentrum Überleben kann es nicht allein machen – aber es steht ja auch nicht allein. Es gibt mittlerweile in Berlin viele weitere tolle, spezialisierte Projekte – für Mütter mit Kindern, für queere Personen, für Personen mit Behinderung oder für Menschen, die gar nicht ukrainischer Nationalität sind und dann ganz andere Fragen haben. Wir sind nur ein psychosoziales Zentrum von vielen und wir leisten die Hilfe, die wir kapazitätsmäßig leisten können. Auch in Bezug auf die Katastrophe in Syrien und in der Türkei versuchen wir zu reagieren. Und obwohl wir gut sind in dem, was wir machen: Für so was kann man nicht üben. Es werden immer wieder andere Krisen kommen, und wir versuchen immer wieder, uns darauf neu einzustellen.

Geflüchtete aus der Ukraine sowie Menschen, die sie unterstützen, und ukrainisches Fachpersonal können sich bei Fragen zur Vermittlung oder Umbildung beim Zentrum Überleben unter der E-Mail-Adresse ukraine@ueberleben.org melden. Die Schulungen des Zentrums für Helfende und Ehrenamtliche finden auch weiterhin statt, neue Termine werden auf der Webseite des Zentrums Überleben ausgeschrieben.