Über 50.000 Unterschriften für eine Berliner Innenstadt fast ohne Autos

Die Initiative „Berlin autofrei“ beantragt ein Volksbegehren. Unterstützung von Parteien gibt es nicht, der Umweltverband BUND hat rechtliche Bedenken.

„Die Rakete ist gelandet“: Die mehr als 50.000 Unterschriften wurden stilecht mit einem Lastenrad zur Senatsverwaltung für Inneres zur Klosterstraße nach Mitte gebracht. 
„Die Rakete ist gelandet“: Die mehr als 50.000 Unterschriften wurden stilecht mit einem Lastenrad zur Senatsverwaltung für Inneres zur Klosterstraße nach Mitte gebracht. Berliner Zeitung/Benjamin Pritzkuleit

Berlin-Die Hürde ist genommen – so sieht es jedenfalls aus. Aller Voraussicht nach werden die Berlinerinnen und Berliner in einigen Monaten darüber abstimmen können, ob der private Autoverkehr in der Innenstadt von 2027 an deutlich reduziert werden soll. Am Donnerstag hat die Initiative „Volksentscheid Berlin autofrei“ der Senatsverwaltung für Inneres an der Klosterstraße in Mitte 50.333 Unterschriften übergeben. Diese begleiteten den Antrag auf Einleitung eines Volksbegehrens, der ebenfalls eingereicht wurde. Laut Gesetz sind 20.000 gültige Unterschriften erforderlich. Selbst wenn also, wie bei Plebisziten üblich, ein Teil als ungültig gewertet werden muss, dürfte die Initiative das Quorum erreicht haben. „Wir gehen davon aus, dass der Antrag erfolgreich sein wird“, sagte Sprecher Manuel Wiemann. „Darüber sind wir sehr glücklich.“

Um 16 Uhr rief Peter Zeigert, Mitglied der Initiative: „Die Rakete ist gelandet.“ Die Kartons mit den Unterschriften, die stilecht per Lastenrad gekommen waren, wurden der Innenverwaltung übergeben. Einige der 300 Menschen, die an der Sammlung beteiligt waren, stellten sich den Fotografen. Auch Labradoodle Theo, der zu dem Medientermin mitgekommen war, kam aufs Bild. Vorn kniete die junge Frau, die sich mit Fühlern und Schneckenhaus aus Pappe als Schnecke ausstaffiert hatte – sie sollte den lahmen Senat darstellen, der mit der Umsetzung des Mobilitätsgesetzes nicht vorankomme.

Rechtswidrig oder nicht? Unterschiedliche juristische Einschätzungen

Die Initiative, der nach eigenen Angaben rund 200 Menschen angehören, hatte am 25. April mit der Unterschriftensammlung begonnen. Normalerweise wäre laut Gesetz sechs Monate lang Zeit, um genug Unterstützer zu gewinnen. In diesem Fall wurde die Sammlung aber schon nach drei Monaten abgeschlossen. Allerdings bestand zu Beginn die Hoffnung, noch früher fertig zu werden.

Doch zum einen habe die Corona-Krise dazu geführt, dass es kaum größere Veranstaltungen gab, bei denen die Unterschriftensammler viele Menschen an einem Ort angetroffen hätten, erklärte Manuel Wiemann. Auch an den Hochschulen war wenig los. Zum anderen wurde zur selben Zeit für das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ gesammelt. Damit warben auch andere Unterschriftsammler um die Bürger.

Ein weiterer möglicher Faktor: Während das Enteignungsplebiszit von der Linken unterstützt wurde, die eine fünfstellige Zahl von gesammelten Unterschriften beisteuerte, bekam das Autofrei-Team keine Hilfe dieser Art - und es wollte auch keine „Keine der etablierten Parteien hat eine zukunftsweisende und gerechte Lösung für die Mobilitätswende“, so die Initiative. Zwar habe sich Rot-Rot-Grün die Mobilitätswende auf die Fahnen geschrieben, aber der Berliner Senat komme nur „im Schneckentempo voran. Vom Mobilitätsgesetz findet sich wenig auf den Straßen wieder“, so die Kritik.

Eine Mitarbeiterin der Innenverwaltung quittierte den Empfang. Nun sind die Wahlämter am Zug.
Eine Mitarbeiterin der Innenverwaltung quittierte den Empfang. Nun sind die Wahlämter am Zug.Berliner Zeitung/Benjamin Pritzkuleit

Trotzdem zeigte sich Sprecher Manuel Wiemann am Donnerstag zufrieden. „Mehr als 50.000 - in Berlin ist dies das fünftbeste Ergebnis für einen Antrag auf ein Volksbegehren“, sagte er. Natürlich bleibe das Team Volksentscheid Fahrrad, das 2016 in nur dreieinhalb Wochen mehr als 105.000 Unterschriften sammelte, unerreicht. Doch dessen Unterstützer waren vor allem in die Universitäten und in andere Hochschulen ausgeschwärmt, in denen damals selbstverständlich Präsenzunterricht stattfand – von Corona ahnte noch niemand etwas. Für den Antrag auf das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ wurden 2019 rund 77.000 Unterschriften gesammelt.

Franz-Rudolf Herber, Herausgeber des Handbuchs „Straßenrecht“ und weiterer Standardwerke, hatte den Plan der Autofrei-Initiative in der Berliner Zeitung aus juristischer Sicht für grundsätzlich machbar erklärt. Dagegen äußerte sich Tilmann Heuser vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) skeptisch. Der Verband teile zwar das Ziel, den privaten Autoverkehr zurückzudrängen, bekräftigte er.

Doch der vorgelegte Gesetzentwurf dürfte rechtswidrig sein, so die Stellungnahme des Berliner Landesverbands. Der enge Rahmen, den das Bundesverfassungsgericht 1996 in seiner Entscheidung zur Ortsumfahrung Stendal für solche Maßnahmengesetze festgelegt habe, werde überschritten, hieß es. Der Gesetzentwurf sieht vor, die Straßen innerhalb des S-Bahn-Rings umzuwidmen und den Gemeingebrauch einzuschränken. Vorgesehen ist eine „Teileinziehung per Landesgesetz“. Nur noch Fußgänger, Radfahrer und Nahverkehrsfahrzeuge sollen im Zentrum ohne Erlaubnis unterwegs sein dürfen. 

In der nächsten Stufe werden fast 180.000 Unterschriften benötigt

Zudem werfe der Ansatz, dass die Autonutzung de facto künftig von einer Behörde genehmigt werden muss, „grundsätzliche Fragen“ auf, so der BUND. Wie berichtet, sollen Bewohnern des Gebiets innerhalb des S-Bahn-Rings nur noch zwölf Fahrten pro Jahr möglich sein – und das auch nur, wenn schwere oder sperrige Gegenstände transportiert werden oder wenn Urlaubs- und Ausflugsziele angesteuert werden, die mit dem öffentlichen Verkehr nicht zumutbar erreicht werden können. Sonst drohen Geldbußen: bis zu 100.000 Euro, heißt es in dem Gesetzentwurf.

Zwar würden notwendige Fahrten von Kranken, Hilfsbedürftigen oder Personen mit Behinderung unbegrenzt erlaubt, und es gäbe auch eine Härtefallregelung – zum Beispiel für Berufstätige, die mit Bahn und Bus zu lang unterwegs wären.  Doch das erklärte Ziel ist es, den Kraftfahrzeugverkehr um bis zu 80 Prozent zu verringern.

Die Unterschriften, die am Donnerstag der Innenverwaltung übergeben wurden, werden nun an die bezirklichen Wahlämter zur Prüfung weitergeleitet. Das bedeutet zusätzliche Arbeit für Behörden, die mit den Wahlen zum Bundestag und zum Abgeordnetenhaus schon gut ausgelastet sind. Das Volksbegehren für eine autoreduzierte Berliner Innenstadt könnte dann im Frühjahr 2022 stattfinden, so die Initiative.

Dann wird die Hürde höher sein: Innerhalb von vier Monaten müssten fast 180.000 gültige Unterschriften gesammelt werden.