Überraschende Erkenntnis: Die autofreie Friedrichstraße zieht Besucher an

Nicht jeder Berliner findet die Flaniermeile gut. Doch jetzt zeigen neue Daten: Auf dem für Autos gesperrten Abschnitt sind immer mehr Menschen unterwegs.

Fahrrad fahren und flanieren: Die neue Friedrichstraße ist offenbar attraktiv.
Fahrrad fahren und flanieren: Die neue Friedrichstraße ist offenbar attraktiv.www.imago.de

Sitzgelegenheiten, Vitrinen, ein provisorischer Radfahrstreifen – und kein Autoverkehr mehr. Ein Abschnitt der Friedrichstraße in Mitte ist seit mehr als anderthalb Jahren Schauplatz eines Versuchs, der sehr kontrovers diskutiert wird. „Traurig“, „peinlich für die Stadt“, „trostlos“: Anlieger und Oppositionsparteien sparen nicht mit Kritik. Doch nun sind aktuelle Daten bekannt geworden, die eher die Befürworter der Flaniermeile stärken. Die Zahlen zeigen nicht nur, dass auf dem für Autos gesperrten Teilstück in der City Ost deutlich mehr Menschen unterwegs sind als vor Beginn des Verkehrsversuchs. Sie belegen auch, dass sie sich dort nun länger aufhalten und dass es sich häufiger als früher um Berliner handelt. Mehr Straßennutzer, längere Verweildauer, mehr Einheimische – danach hat auf der Friedrichstraße eine positive Entwicklung begonnen.

Ende August 2020 war es so weit: Das rund 500 Meter lange Teilstück zwischen der Französischen und der Leipziger Straße wurde für Kraftfahrzeuge gesperrt. Zur Begrünung stellte man Kübel mit 45 Kaiserlinden und 20 Amberbäumen auf, die später wieder weggeräumt wurden. Geblieben sind die Vitrinen, Showcases genannt, in denen Geschäfte auf sich aufmerksam machen können. Parklets, Holzkonstruktionen mit Sitzbänken, schaffen Plätze zum Ausruhen. Den Fußgängern gehört aber nicht die gesamte einstige Fahrbahn: In der Straßenmitte verläuft ein vier Meter breiter Radfahrstreifen, der mit gelbem Klebeband vorläufig markiert worden ist.

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65 Prozent Zuwachs seit Juni 2020

Wie hat sich dieser Bereich des historischen Stadtzentrums entwickelt? Kommen weniger Einkaufsbummler in die Friedrichstraße? Das weiß man bei dem Berliner Unternehmen What a Location. Die Analysten dort können anhand von anonymisierten Mobilfunkdaten nicht nur ermitteln, wie viele Menschen sich wo befinden, sondern auch feststellen, wie lange sie sich dort aufhalten und woher sie kommen. Die Daten des Unternehmens sind gefragt. Stadtentwicklungsressorts von Kommunen gehören ebenso zu den Kunden von What a Location wie Unternehmen des Einzelhandels, der Gastronomie und der Immobilienwirtschaft.

Um die jüngere Entwicklung in der Friedrichstraße bewerten zu können, hat das Unternehmen der Berliner Zeitung einen Blick in seine umfangreiche Datenbank ermöglicht. Wir haben jeweils eine Woche zur Monatsmitte herausgegriffen und aus den Zahlen von Montag bis Sonntag eine durchschnittliche Tagesbesucherzahl ermittelt. Demnach waren Mitte Juni 2020 in dem seinerzeit noch für Autos offenen Abschnitt täglich im Durchschnitt 5939 Menschen unterwegs, im Juli 6870, im August 7693.

Mitte September 2020, gut zwei Wochen nach Einführung des Autoverbots, wurden in diesem Teil der Friedrichstraße pro Tag im Durchschnitt 9026 Menschen gezählt. Ein Jahr später, im September 2021, wiesen die Daten von What a Location dort täglich 9084 Menschen  nach. Im März 2022 war ein weiterer Zuwachs festzustellen: Vorige Woche waren es 9781 Menschen pro Tag – im Vergleich zu Juni 2020 ein Anstieg um 65 Prozent.

„Für Gewerbetreibende äußerst wertvoll“

Von dem Ergebnis ist auch Henning Richard Haltinner, Chef und Mitgründer von What a Location, überrascht. „Man hört eigentlich viel, dass die Maßnahme zur Verkehrsberuhigung angeblich nicht funktioniert und die Händler vor Ort sich beklagen“, so Haltinner. „Aber die Daten sagen etwas anderes.“

„Ich sehe dank der Daten, dass die Maßnahme dafür sorgt, dass in diesen Teil der Friedrichstraße mehr Besucher kommen“, sagt der Datenanalyst. Und noch etwas sehr Interessantes sei festzustellen: „Die Leute halten sich tatsächlich auch länger in dem Bereich auf, was sie für Gewerbetreibende äußerst wertvoll macht.“ Darüber hinaus sei die Herkunft der Besucher bemerkenswert. Natürlich seien coronabedingt Touristen  weggeblieben, aber es hätten dafür mehr Berliner Zeit in der Friedrichstraße verbracht.

Auch für ein anderes Teilstück der Nord-Süd-Verbindung in Mitte, das sich nicht weit von dem für Autos gesperrten Abschnitt erstreckt, lässt sich eine positive Entwicklung verzeichnen. In der Research-Abteilung des Hamburger Immobilienunternehmens Engel & Völkers werden regelmäßig die Passantenfrequenzen in hundert deutschen Einkaufs-Hotspots gemessen und ausgewertet. Die jüngste Analyse basiert auf Daten von Mitte September. Per Handzählung ließ Engel & Völkers ermitteln, wie viele Menschen an einem Sonnabendnachmittag während einer Stunde unterwegs waren. Der Messpunkt lag zwischen dem Bahnhof Friedrichstraße und der Dorotheenstraße südlich davon.

Das Ergebnis brachte diesen Teil der Friedrichstraße im Ranking der Top-100-Einkaufsmeilen der Nation zwar nur auf Platz 83, während es die Rosenthaler Straße unweit vom Hackeschen Markt in Mitte auf den 14. Rang schaffte und der Tauentzien in der City West auf 22 rangiert. Doch der Trend ist deutlich positiv. So stieg die Passantenfrequenz auf dem untersuchten Abschnitt der Friedrichstraße gegenüber September 2020 um 22,3 Prozent. In der Rosenthaler Straße betrug der Zuwachs dagegen nur 5,5 Prozent, am Alex wurde sogar ein Rückgang um 3,6 Prozent gemessen.

„Fahrrradschnellweg“ stößt auf Skepsis

Dass in der Friedrichstraße noch was geht, davon ist Florian Reiff fest überzeugt. „Sie wird langfristig eine der wichtigsten Verbindungsachsen mit attraktiven Einzelhandels- und Kulturangeboten in Berlin bleiben“, sagt er der Berliner Zeitung. Allerdings hängt für Reiff auch viel davon ab. Denn der Mittfünfziger ist Deutschland-Chef des US-Immobilienentwicklers Tishman Speyer, dem das Q205 in der Friedrichstraße, Ecke Mohrenstraße, gehört. Außerdem hat das Unternehmen erst Anfang Februar das zwei Blocks entfernte Q207 für einen dreistelligen Millionenbetrag gekauft. Dort ist das Modekaufhaus Galeries Lafayette der Hauptmieter. Büro- und Einzelhandelsnutzungen werden, wie heute auch schon, die bedeutendsten Nutzungsarten bleiben, sagt Reiff. Er wolle den Stadtraum beleben: „Wir möchten die Aufenthaltsqualität weiter verbessern.“

Dass die Straße vor seinen Gebäuden für Autos gesperrt ist, hält er durchaus für vorteilhaft. „Grundsätzlich begrüßen wir eine Aufwertung dieses Abschnitts der Friedrichstraße für Fußgänger und Radfahrer“, hält der Immobilien-Profi fest. Florian Reiff sieht jedoch auch „deutliches Verbesserungspotenzial“. Mit dem „Fahrradschnellweg“ bleibe die Straßenfunktion erhalten – wenn auch nur für Radfahrer. Folge: „Fußgänger müssen sich weiterhin sehr vorsehen, wenn sie die Straße überqueren wollen.“ Der Tishman-Speyer-Manager hofft also auf weitere Verbesserung und ist „auch gerne bereit, sich aktiv einzubringen“.

Verein „Die Mitte“ fordert Gestaltungswettbewerb

Der Verein „Die Mitte“ bekräftigte seine Kritik am jetzigen Erscheinungsbild der Friedrichstraße, für das der Bezirk Mitte und der Senat verantwortlich seien. „Man muss sich entscheiden: Will man die Straße autofrei oder als Flaniermeile? Das ist nicht dasselbe, denn Radfahrer sind auch Verkehrsteilnehmer“, sagte Guido Herrmann der Berliner Zeitung. Der Verwaltungsdirektor und Prokurist des Friedrichstadt-Palastes ist Vorstandsvorsitzender des Vereins, in dem sich rund 170 Akteure aus den Bereichen Einzelhandel, Immobilien, Kultur, Dienstleistungen, Hotellerie und Gastronomie engagieren. „Längst nicht alle Radfahrer verhalten sich so rücksichtsvoll, wie dies in diesem Stadtraum erforderlich wäre.“

„Wir haben nie gesagt, dass die Friedrichstraße eine Durchgangsstraße bleiben soll. Doch eine Fahrradstrecke ist ebenfalls nicht gewollt. Ein Radweg allein ist noch kein Stadtraum“, so Herrmann. Das weitere Vorgehen müsse professionalisiert werden, forderte er. „Es muss einen internationalen Wettbewerb für die Friedrichstraße und Unter den Linden geben. Experten von außen müssen sich darüber Gedanken machen, wie dieser Teil unserer Hauptstadt gestaltet, wie der Verkehr dort bewältigt werden soll. Es sind Kulturstraßen, die unsere Stadt geprägt haben. Sie nur dem Bezirk oder der Verkehrsverwaltung zu überlassen, ist nicht richtig.“

Inzwischen hat sich ein Aktionsbündnis „Rettet die Friedrichstraße“. Es will die Diskussion vorantreiben.