Urteil im Fall Scholl: Der Tag der Entscheidung
Potsdam - Sie sind alle noch einmal gekommen zu diesem letzten Verhandlungstag, zum großen Finale. Der Sohn des Angeklagten, die Cousine, die Kindheitsfreunde, der Geschäftspartner, die Freundinnen des Opfers, die leitende Kriminalkommissarin, Polizisten, die den Tatort abgesucht haben, Nachbarn und Bewohner der brandenburgischen Stadt Ludwigsfelde, die Heinrich Scholl fast zwei Jahrzehnte lang regiert hat. Es war ein langer Prozess. Er begann im Oktober, als sich draußen im Gerichtshof die Blätter an den Bäumen bunt färbten und zog sich durch einen kalten Winter.
Nun ist Mai, nun wird das Urteil verkündet. Die Freundinnen von Brigitte Scholl haben Sommerkleider angezogen, ein Zuschauer kommt mit Strohhut wie zu einem Pfingstkonzert. Nur Heinrich Scholl, 70, seit 15 Monaten in Untersuchungshaft, trägt den gleichen grauen Nadelstreifenanzug und das schwarze Polohemd, genau wie am ersten Verhandlungstag.
Er hat ein gelbes Heft in der Hand, als er den Gerichtssaal betritt als sei das hier eine Rathaussitzung, und nicht die eigene Urteilsverkündung. Es ist 13.30 Uhr. Das Schwurgericht unter Leitung des Vorsitzenden Richters Frank Tiemann betritt den Saal. Die Zuschauer erheben sich von den Stühlen. „Im Namen des Volkes“, beginnt Tiemann, „Der Angeklagte Heinrich Scholl wird wegen vorsätzlichen Mordes aus Heimtücke an seiner Frau und Tötung eines Wirbeltieres ohne vernünftigen Grund zur lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Der Haftbefehl wird aufrecht erhalten.“
Heinrich Scholl schwankt vor und zurück, für einen Moment sieht es so aus, als falle er um. Die Frauen in den Sommerkleidern fangen an zu weinen, der Sohn presst die Lippen zusammen. Das Urteil ist gesprochen. Der Prozess ist vorbei. Aber nicht nur das.
47 Jahre hat die Ehe der Scholls gehalten. Am Ende steht ein Mord, ein zerrüttetes Verhältnis zwischen Vater und Sohn und nun auch noch eine lebenslange Gefängnisstrafe für einen einst angesehenen Mann und Politiker. Was für ein Drama!
Es begann im Jahre 2008, als der Bürgermeister von Ludwigsfelde aus dem Amt schied und die Eheprobleme mit seiner Frau immer offensichtlicher wurden. Zeugen sprachen im Prozess davon, dass Brigitte Scholl sehr dominant war und ihren Mann ständig herumkommandierte. Auch seine Mutter sei sehr dominant gewesen, sagte der psychiatrische Gutachter Alexander Böhle. „Er ist praktisch von einem Dominanzregime ins nächste gekommen.“
Scholl brach aus der Ehe aus, zog nach Berlin und hatte dort eine Beziehung zu einer heute 36 Jahre alten thailändischen Prostituierten. Die sagte vor Gericht aus, dass Scholl für sie etwa 40 000 Euro für sie ausgegeben hatte. Doch irgendwann wollte sie nichts mehr von ihm wissen, weil er so fordernd und besitzergreifend war.
Im Dezember 2011 kehrte Scholl nach Ludwigsfelde zu seiner Ehefrau zurück. Nach Ansicht des Gerichtes hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits den Plan gefasst, sie umzubringen. „Er ist nicht zurückgekommen, um mit seiner Frau den Lebensabend zu verbringen“, so Richter Frank Tiemann, „er wusste, das ist die Hölle für ihn. Er wollte mit seiner Geliebten leben, so wie er mit ihr in Berlin gelebt hatte. Seine Frau musste weg.“
Vorgetäuscher Sexualmord
Am 28. Dezember begingen sie noch gemeinsam ihren 47. Hochzeitstag. Einen Tag später war Brigitte Scholl tot. Nach Auffassung des Gerichts hatte Heinrich Scholl, als er vormittags das Haus verließ, bereits alles eingesteckt, was er zur Tat brauchte: Zwei Plastiktüten, zwei ein Meter lange Schnürsenkel und ein Stück Wäscheleine. Seine Frau habe ihn an der Therme abgeholt. Zusammen seien sie zum Wald gefahren, um mit dem Hund spazieren zu gehen.
Als sich Brigitte Scholl ihre Handschuhe anzog, um Moos zum Dekorieren zu sammeln, habe er ihr unvermittelt ins Gesicht geschlagen. Sie sei zu Boden gefallen, er habe erst sie und dann den Hund mit einem Schnürsenkel erdrosselt.
Anschließend, so der Richter, habe er versucht, einen Sexualmord vorzutäuschen, was ihm aber nicht gelungen sei. „Es ist ja immer denkbar, dass der Unhold vom Dienst durch den Wald schleicht und sich an jemandem vergehen will“, sagte Tiemann, „aber warum macht er es dann gar nicht und tötet die Frau trotzdem? Und dann nimmt er ihr auch noch den Autoschlüssel weg, aber nicht, um das Auto zu entwenden, sondern um es am Bahnhof abzustellen.“
Verteidiger forderten Freispruch
Für den Richter gibt es keine Zweifel. Gnadenlos fegt er alle Einwände vom Tisch, die von den beiden Verteidigern am vergangenen Donnerstag vorgetragen worden waren. Stefan König und Heide Sandkuhl hatten in ihren Plädoyers das Gericht aufgefordert, den Angeklagten freizusprechen.
Ihre Begründung: Kein Zeuge hat die Tat beobachtet, niemand hat Heinrich Scholl zur Tatzeit am Tatort gesehen, der Angeklagte selbst hat die Tat gegenüber der Polizei stets bestritten und im Gerichtssaal während der Beweisaufnahme geschwiegen. Erst am vorletzten Prozesstag hatte Scholl sein Schweigen gebrochen und gesagt: „Ich kann nur noch mal versichern, dass ich mit dem Mord nichts zu tun habe.“
Die Verteidiger hoben zudem hervor, dass viele Zeugen sich nicht genau erinnern konnten, ob, wo und wann genau sie Heinrich Scholl gesehen hatten. Ob nun am Tag der Tat oder früher oder auch später. „Aus all diesen Zeugenaussagen kann kein Schuldbeweis geschlossen werden“, hatte Rechtsanwalt Stefan König gesagt.
Heide Sandkuhl hatte noch eine „Hilfsüberlegung“ angestellt: Sollte das Gericht den Angeklagten doch nicht als unschuldig einstufen, solle er nicht wegen Mordes, sondern nur wegen Totschlags im Affekt zu fünf Jahren Haft verurteilt werden. Scholls Sohn Matthias, der als Nebenkläger auftrat, forderte eine Freiheitsstrafe von nicht weniger als zehn Jahren wegen Totschlags.
Doch das Gericht folgt Staatsanwalt Gerd Heininger, der eine lebenslange Haftstrafe verlangt. Der Angeklagte, so Tiemann, habe vorsätzlich gehandelt. Es sei keine Handlung im Affekt gewesen, sondern eine vorbereitete Tat, die mit Faustschlägen begonnen habe und dann in den „Drosselvorgang“ übergegangen sei. Deshalb käme auch Totschlag nicht in Frage.
Der Richter winkt müde ab und schließt die Verhandlung nach viereinhalb Stunden. Heinrich Scholl sitzt zusammengesunken vor seinem Heft. Er hat nichts hinein geschrieben. (mit bla.)