Veggie-World 2019 in Berlin: Gesundheitsapostel und Tofu-Krieger – was ist dran an den Veganer-Klischees?
Gesundheitsapostel, Tofu-Krieger, Körnerfresser. Es gibt viele Klischees, wenn es um Veganer geht. Oft heißt es auch, Menschen, die konsequent auf tierische Produkte verzichten, seien mehrheitlich schlapp, blass, kränklich sowie humorlos und unzufrieden. Was aber ist dran am Mythos von der Mangelernährung und den Klischee-Veganern?
Auf der Messe Veggie-World, die am Wochenende in der Station in Kreuzberg stattfindet, bietet sich die Gelegenheit, den Veganer-Stereotypen auf den Grund zu gehen. Zum vierten Mal findet das Event statt – mit einer Rekordzahl an Ausstellern. „130 sind es dieses Jahr. Bei der ersten Berliner Veggie-World 2015 waren es lediglich 55“, sagt Vera Oswald, Sprecherin des Veranstalters Wellfair aus Meerbusch bei Düsseldorf.
Milch- und Fleischalternativen aus Jackfruit, Snacks aus Lupinen
Bis zu 10.000 Besucher werden am Sonnabend und Sonntag erwartet. Unter den deutschen Standorten der Veggie-World, die hierzulande noch in sechs weiteren Städten ausgerichtet wird, sei Berlin einer der größten, sagt Vera Oswald.
Auf der Messe geht es mehrheitlich ums Essen. So werden zum Beispiel Milch- und Fleischalternativen aus Erbsen, Bohnen und Jackfruit präsentiert, aber auch Snacks wie Energieriegel mit Lupinen sowie besondere Schokolade und Eis. Besucher finden darüber hinaus Produkte für den veganen Lebensstil jenseits von Lebensmitteln: von Bekleidung und Kosmetik über Dienstleistungen wie ethisch-ökologische Versicherungen bis hin zu Informationen über Projekte wie Foodsharing, eine Initiative gegen die Verschwendung von Lebensmitteln.
„Zur Veggie-World kommt für gewöhnlich ein ganz normales, bunt gemischtes Publikum. Dass Leute darunter sind, die so richtig dem Veganer-Klischee entsprechen, ist die große Ausnahme“, sagt Niko Rittenau, der wie in den Jahren zuvor als Referent auf der Messe ist. Der Koch und Ernährungsberater wird in einem Fachvortrag wissenschaftliche Antworten auf kritische Fragen zu veganer Ernährung geben.
„Bei meinen Vorträgen sehe ich Menschen im Alter von 16 bis über 60 und aus diversen soziodemografischen Schichten“, sagt der Österreicher, der vor sechs Jahren Berlin zu seiner Wahlheimat gemacht hat. Unterm Strich gebe es allerdings schon so etwas wie einen Veganer-Typus, räumt er ein. „Studien zeigen, dass Veganer im Durchschnitt meist weiblich sind, in Großstädten leben und ein akademisches Umfeld haben“, berichtet Rittenau.
Veganismus: „Der größte Mythos ist der von der Mangelernährung“
Der 27-Jährige, der sich selbst vollwertig-pflanzlich ernährt, wie er sagt, hat im Herbst das Buch „Vegan-Klischee ade!“ (Ventil-Verlag, 24,80 Euro) veröffentlicht. Darin räumt er weniger mit den Vorurteilen über Veganer auf, sondern mehr mit denen über den Veganismus. „Der größte Mythos ist der von der Mangelernährung“, sagt Rittenau. Immer wieder werde behauptet, dass Veganern Nährstoffe fehlten, die nur tierische Produkte liefern können – zum Beispiel Kalzium aus der Milch, Eisen aus rotem Fleisch und Omega-3-Fettsäuren aus bestimmten Fischarten. „Mit der richtigen Kombination an Lebensmitteln, also mit Obst, Gemüse, Vollkorngetreide, Hülsenfrüchten, Nüssen und Samen, ist es kein Problem, den Nährstoffbedarf zu decken“, sagt der Ernährungsberater. Es gebe lediglich eine Ausnahme: Vitamin B12 . „Das sollten Veganer regelmäßig als Ergänzungsmittel einnehmen“, rät der Experte.
Auch über Soja gebe es falsche Annahmen, sagt Rittenau. Weil Sojaprodukte sogenannte Phytoöstrogene enthalten, hätten vor allem Männer Bedenken, dadurch zu verweiblichen. „Das ist schwer möglich, denn das Phytoöstrogen hat eine um den Faktor 100 bis 10.000 geringere Wirkung als das weibliche Geschlechtshormon Östradiol“, sagt Rittenau. Vor Sojaprodukten müssten sich lediglich Sojaallergiker hüten. Alle anderen bräuchten kein schlechtes Gewissen zu haben. „Auch nicht wegen der Umwelt, denn das Soja für die hiesigen Produkte kommt überwiegend aus Europa“, ergänzt er. Die Sojabohnen, für deren Anbau der tropische Regenwald weichen muss, seien zu mehr als 90 Prozent für die industrielle Tierhaltung.
Ein spannendes Jahr für den veganen Lebensstil
Rittenau beobachtet seit Jahren einen Veggie-Boom. „Die Zahl der Kochbücher steigt laufend. Im Jahr 2012 kamen 23 auf den Markt, 2016 waren es 211“, berichtet er. An Berlin weiß er die hohe Dichte an Restaurants, Imbissen und Supermärkten mit veganem Angebot zu schätzen.
Für Rittenau ist das laufende Jahr besonders spannend. „Viele Medien wie die Zeitschrift The Economist und die britische Zeitung The Guardian haben prophezeit, dass 2019 das Jahr sein wird, in dem der Veganismus auch weltweit in den Mainstream gerät“, berichtet er.
Andere Experten sehen das nüchterner. „Der Veganismus genießt viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Aber selbst in Deutschland, wo er vergleichsweise stark verbreitet ist, hat er nicht so viele Anhänger“, sagt Helmut Heseker, Professor für Ernährungswissenschaft an der Universität Paderborn.
Ernährungswissenschaftler Helmut Heseker: „Vegane Ernährung ist eine einseitige Ernährungsform“
Die Angaben über die Zahl der Veganer schwanken. Eine Studie von Göttinger Forschern beispielsweise beziffert den Anteil der Vegetarier in der Bevölkerung hierzulande auf 3,7 Prozent und den der Veganer auf weniger als ein Prozent. Der Verein Proveg, der nach eigenen Angaben Menschen zu einem pflanzlichen Lebensstil inspirieren und motivieren will, gibt die Quote der Vegetarier mit 10 Prozent an, die der Veganer mit 1,1 Prozent.
Wer sich dafür entscheidet, vegan zu leben und Fleisch, Milch, Käse und Eiern konsequent abzuschwören, sollte auf alle Fälle wissen, worauf er sich einlässt, sagt Heseker. „Vegane Ernährung ist eine einseitige Ernährungsform“, gibt der Forscher zu bedenken. Es sei durchaus möglich, rein pflanzliches Essen so abwechslungsreich zu gestalten, dass der Nährstoffbedarf gedeckt wird. Dazu brauche man aber gute Kenntnisse über Lebensmittel.
Ebenso wie Ernährungsberater Niko Rittenau hält er es unbedingt für erforderlich, regelmäßig Vitamin-B12 -Präparate einzunehmen. Riskant findet er vegane Ernährung auch für Kinder. „Für ihr Wachstum brauchen sie relativ viel Eiweiß und mehrfach ungesättigte Fettsäuren. Das ist mit veganer Kost machbar, aber nicht einfach“, sagt Heseker.
Bedenklich findet es der Forscher auch, wenn Veganer sich ohne medizinische Notwendigkeit zusätzlich für einen Verzicht auf Gluten entscheiden, ein Eiweiß, das in Weizen und vielen anderen Getreidearten enthalten ist. „Je mehr Lebensmittel auf der Tabuliste stehen, desto problematischer wird es“, sagt der Forscher.
Gesundheitsfreaks finden sich doch so einige unter den Veganern
Grundsätzlich habe der bevorzugte Verzehr pflanzlicher Lebensmittel, insbesondere von Gemüse und Obst, aber viele Vorteile. „Zahlreiche Studien belegen, dass eine solche Kost Übergewicht vorbeugt und das Risiko für Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck sowie einige Herzleiden und Krebsarten senkt“, sagt Heseker.
Vegetarier und Veganer schneiden in vergleichenden Untersuchungen meist besonders gut ab. „Das hat aber auch damit zu tun, dass sie insgesamt meist gesünder leben und zum Beispiel seltener rauchen, weniger Alkohol trinken und sich mehr bewegen“, sagt der Forscher.
Das mit den Gesundheitsaposteln ist sicher ein Klischee. Gesundheitsfreaks finden sich aber doch so einige unter den Veganern. Und das ist im Grunde nur gut in einem Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung immer wieder als zu dick und zu träge gescholten wird.