Velogista aus Berlin: Wie eine Kreuzberger Firma den Lieferverkehr revolutioniert
Es gibt gemütlichere Arbeitsorte. Gegen die Kühle hilft auch der Kräutertee in der Thermokanne wenig. Kartonstapel türmen sich, Lastenfahrräder stehen im Weg. Auch an den Wänden ist kaum noch Platz. Dutzende von Klebezetteln in Rosa, Orange und Grellgrün hängen dort, mit Notizen, die auch in den Konferenzraum eines Konzerns passen würden: „Erfolgskontrolle“, „Effizienz Disposition“, „Systemanpassung“.
Das Durcheinander im Hauptquartier von Velogista, das sich in einem Kreuzberger Gewerbehof verbirgt, zeigt: Das junge Unternehmen hat gut zu tun, es wächst und ist auf dem Sprung – in eine Zukunft, in der immer größere Teile des innerstädtischen Warenverkehrs anders abgewickelt werden als bisher. Mit Pedalkraft, ohne Lärm und Abgase.
Velogista bedeutet: Logistik mit Velos – in diesem Fall mit Schwerlast-Dreirädern. Martin Seißler lässt den Mantel an und sucht sich in seinem zugestellten Büro einen Platz vor den Wänden mit den Klebezetteln. Der Mitgründer und Geschäftsführer erzählt von sich und von dem Unternehmen, das mittlerweile 14 Beschäftigte und acht Fahrzeuge hat. Geradlinig ist der Lebensweg nicht, dennoch erscheint er zwangsläufig. Als musste er unweigerlich hierher führen, in die kühlen Gewerberäume an der Adalbertstraße.
30 Umzugskartons? Kein Problem
„Ich mache das, was mir Spaß macht und einen Sinn hat“, sagt der 40-Jährige. In Konstanz studierte er Wirtschaftssinologie – eine Mischung aus Ökonomie und Chinakunde. „Während des Studiums war ich ein Jahr in China. Dort gab es die erste Initialzündung für das, was ich heute mache. Wenn ich morgens aus dem Haus ging, erlebte ich, wie schmutzig die Luft in Peking ist. Der Kraftfahrzeugverkehr nimmt zu, und in der Umgebung gibt es viele Kohlekraftwerke.“
Zurück in Berlin erlebte Seißler die zweite Initialzündung, „als ich mit meinem ersten Sohn in Kreuzberg und Neukölln zu Fuß unterwegs war. Allein kam ich ja ganz gut voran, aber wenn ich den Kinderwagen dabei hatte, stellte ich fest, wie viele Gehwege zugeparkt sind. Ich kaufte ein Lastenrad und stellte fest, dass ich damit nicht nur meinen Sohn bequem befördern kann. Als ich zu Hause ein Zimmer streichen musste, konnte ich 60 Kilo Farbe und eine lange Leiter mit diesem Rad mühelos transportieren. Auch 30 Umzugskartons waren kein Problem.“
Viele Kuriere, keine Logistik
Bei seinen Fahrten fielen ihm die vielen Lieferautos auf, manche hatten nur wenige Pakete geladen. „Eine Studie der European Cycle Logistics Federation (ECLF) hat ermittelt, dass bei 80 Prozent der Lieferfahrten weniger als 50 Kilo transportiert werden. Das ist ineffizient.“ Der Gedanke entstand, sich selbstständig zu machen – als Velo-Logistiker. Am 20. Januar 2014 fing Velogista an, mit einem dreirädrigen Pedalfahrzeug mit E-Motor, mögliche Zuladung 250 Kilo. Kosten: 9000 Euro. Das Geld wurde in der Familie und bei Freunden gesammelt. „Damals betraten wir Neuland. Zwar gab es in Berlin Fahrradkuriere, aber keine Radlogistik.“
Der erste Kunde war die Firma Quitoberlin, und er ist geblieben. Bioprodukte aus Ecuador sind in Berlin zu verteilen, zum Beispiel Knabbereien an Kinos. Inzwischen findet man auch DB Schenker, den Logistikdienstleister der Bahn, in der Kundenkartei. Und eComLogistik, die Logistiktochter von Pelikan, in deren Auftrag Velogista McPaper-Geschäfte mit Schreibwaren beliefert. Für den Internetversand Memo bringt Velogista Bestellungen zu Endkunden. Einmal pro Woche werden Blumen aus den Niederlanden ausgefahren, ebenfalls an Private.
Für zwei Drittel der Kraftleistung sorgt der Elektroantrieb
Warenverteilung, Internethandel: Das sind wachsende Logistikbereiche, die den Städten immer mehr Verkehr bescheren, immer mehr Schadstoffe in der Luft, zugeparkte Fahrbahnen und Radfahrstreifen. Bei Twitter dokumentieren Fahrradaktivisten Regelverstöße von Lieferdiensten, ein Hashtag heißt #DHLillegal. „Für viele Unternehmen heißt Logistik, immer mit dem größtmöglichen Fahrzeug unterwegs zu sein. Für uns heißt Logistik, immer das passende Fahrzeug einzusetzen“, sagt Seißler. „Wir kommen überall durch und überall hin, auch in enge Gewerbehöfe, in deren Zufahrten Lkw stecken bleiben können. Wir parken keine Radfahrstreifen zu, wir belasten die Stadt nicht mit Lärm und Abgasen.“
Die Dreiräder schaffen 25 Kilometer pro Stunde, wenn es bergab geht, auch 30. Eine Standardtour ist 15 bis 25 Kilometer lang. „Die Fahrer haben kein Problem, drei Touren pro Tag zu bewältigen. Für zwei Drittel der Kraftleistung sorgt der Elektroantrieb.“
Kongress kommt 2018 nach Berlin
Lastenräder haben ein großes Potenzial. Bis zu 23 Prozent aller Lieferfahrten, die in einer Stadt anfallen, könnten per Lastenrad abgewickelt werden. Mit einer Studentengruppe der TU Berlin wird an dem Thema Kühlung auf Lastenrädern gearbeitet: „Das Gewicht der Aggregate ist heute noch ein Problem. Wenn wir hier eine Lösung finden, könnten wir neue Geschäftsfelder erschließen – wie Arznei- und Lebensmitteltransporte.“
Velogista expandiert, wie andere Firmen dieser Art. Geplant ist, die Zahl der Standorte und Fahrzeuge zu verdoppeln. Unweit vom Gefängnis Plötzensee gibt es bereits einen zweiten Firmenstützpunkt. Zwei weitere sollen dazu kommen: in Wilmersdorf und in Prenzlauer Berg, wo der Senat nahe der Gleimstraße einen Urban Hub plant – einen Knotenpunkt für innerstädtischen Warenverteilverkehr, den Händler und Transportunternehmen gemeinsam nutzen können.
Das Konzept, bei dem auch eine Güterstraßenbahn eine Rolle spielen könnten, stößt in der Logistikbranche noch auf Skepsis – sie setzt auf eigene Infrastruktur. Trotzdem hegt Verkehrs-Staatssekretär Jens-Holger Kirchner große Hoffnungen, Hauptsache, der Verkehr wird effizienter. Der Grüne ist ein Fan von Lastenrädern. „Als Nächstes brauchen wir Nextcargobike“, sagte er, als der Radvermieter Nextbike sein vom Land subventioniertes System startete. Der Senat schaffte es, den nächsten Kongress des Branchenverbands ECLF 2018 hierher zu holen.
Die Politik könnte aber noch mehr machen, sagen Aktivisten. München und einige Städte in Österreich zahlen Zuschüsse beim Kauf von Lastenrädern. „Wie stadtverträglich und umweltfreundlich Logistik ist, hängt von der Politik ab. Sie kann das steuern“, sagt Martin Seißler. „In Frankreich ist es zum Beispiel verboten, für Warenretouren kein Geld zu verlangen. Und in französischen und schwedischen Städten gibt es Viertel, in die kein konventionelles Lieferfahrzeug hinein darf.“ Ein Lastenrad dagegen schon.