Streit um autofreie Friedrichstraße: Anwohner legen Widerspruch ein
Ein Abschnitt wurde für Fußgänger, Radfahrer und E-Scooter geöffnet. Ein Aktionsbündnis warnt mit neuen Daten vor dem Niedergang der Straße. Der Senat kontert.

Im Konflikt um die autofreie Friedrichstraße in Mitte braut sich der nächste Rechtsstreit zusammen. „Gegen die neuerliche Sperrung des Abschnitts zwischen der Leipziger und der Französischen Straße wurde nunmehr Widerspruch eingelegt“, teilte das Aktionsbündnis „Rettet die Friedrichstraße“ am Donnerstag mit. Neue Daten zur Besucherfrequenz würden zeigen, dass der Einzelhandel Schäden erlitten hat, weil dort mehr als zwei Jahre lang keine Autos mehr fahren durften. „Im Vergleich mit anderen Einkaufsstraßen rutscht die Friedrichstraße seit 2020 zunehmend in die Bedeutungslosigkeit ab“, hieß es. Die Senatsverwaltung konterte umgehend.
Einige Autos verirren sich immer noch dort hin. Doch seit dem Morgen des 30. Januar 2023 dürfen Kraftfahrzeuge den Abschnitt rund um das Warenhaus Galeries Lafayette und das Russische Haus nicht mehr nutzen. Rechtliche Grundlage ist die Teileinziehung für diesen Teil des Verkehrs, die das Bezirksamt Mitte Ende Januar im Berliner Amtsblatt verkündet hatte. Dieser Teil der Friedrichstraße steht nun Fußgängern auf ganzer Breite zur Verfügung, Straßenmobiliar wurde aufgestellt. Radfahrer und E-Scooter dürfen sich ebenfalls auf der einstigen Fahrbahn bewegen, aber nur in Schrittgeschwindigkeit.
Das Bezirksamt und die Senatsverwaltung für Mobilität hatten schon vor längerer Zeit angekündigt, dass der Abschnitt auf ganzer Breite dauerhaft für klimafreundliche Fortbewegungsarten geöffnet wird. Nun ist die Maßnahme in den Wahlkampf vor der Wiederholungswahl an diesem Sonntag gefallen. Nicht nur die Opposition, auch die im Senat mitregierende SPD greift Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) offen an.
Dabei stammten die ersten Ideen, Teile der Friedrichstraße für Kraftfahrzeuge zu sperren, 2016 vom Allgemeinen Deutschen Automobil-Club (ADAC) – und sie wurden lange von den Sozialdemokraten unterstützt. So forderte SPD-Verkehrspolitiker Tino Schopf 2019 dort eine verkehrsberuhigte Zone ohne Autoverkehr.
„Die ‚Leuchtturm-Meile‘ Friedrichstraße wird unattraktiver“
Doch aktuell nimmt die Kritik immer weiter zu, wie die jüngste Mitteilung des Aktionsbündnisses „Rettet die Friedrichstraße“ von Donnerstag zeigt. „Mit der erneuten Sperrung droht der Friedrichstraße und dem gesamten Quartier nun eine dauerhafte Schädigung“, so das Bündnis. „Die Vormonate zeigen: Die negativen Auswirkungen für diesen wichtigen Teil der historischen Mitte Berlins stehen in keinem Verhältnis zum senatsseitig avisierten Nutzen. Die ‚Leuchtturm-Meile‘ Friedrichstraße wird insgesamt unattraktiver. Betroffen sind längst nicht mehr nur der Teil zwischen Französischer und Leipziger Straße, sondern auch der nördliche Abschnitt jenseits Unter den Linden.“
Ebenfalls am Donnerstag präsentierte die Organisation eine neue Datenauswertung von Place Sense. Das Unternehmen ermittelt, in welchem Maße Straßen genutzt werden. In diesem Fall wurden leistungsfähige Mobilitätsdaten aus anonymisierten, metergenauen GPS-Signalen ab vor der Sperrung im Jahr 2019 bis Ende Dezember 2022 untersucht. Damit umfasst die Auswertung auch die Zeit, in der dieser Teil der Friedrichstraße für Kraftfahrzeuge nicht nutzbar war. Vom 29. August 2020 bis 22. November 2022 stand es schon einmal ausschließlich Fußgängern, Fahrrädern und E-Scootern zur Verfügung.
Analyse: Nach Öffnung für Autos nahm die Zahl der Passanten zu
„Belegt wird, dass die Friedrichstraße während der Projektzeit hinter andere Berliner Straßen deutlich zurückfällt und einen Rückgang an Besuchsfrequenzen von durchschnittlich minus 51 Prozent verzeichnet“, berichtete das Aktionsbündnis.

„Vor dem Jahr der ersten Sperrung besaß der betroffene Abschnitt der Friedrichstraße innerhalb Berlins eine hohe Popularität, im Verlauf der Sperrung zeigte sich, dass sich Berliner und Gäste innerhalb Berlins umorientieren. Die so dringend benötigte Erholung des Einzelhandels nach den Corona-Maßnahmen verläuft in der Friedrichstraße leider deutlich unterdurchschnittlich“, fasste das Aktionsbündnis zusammen.
Die Politik versuche, das Problem klein zu reden, hieß es weiter. „Alle Aussagen von Politikern, welche die Umsatzrückgänge auf Corona-Pandemie oder Energiekrise schieben und die Friedrichstraße als funktionierende Einkaufsstraße sogar infrage stellen wollen, sind eindeutig widerlegt.“
Als vom 23. November 2022 an zunächst wieder Autos fuhren durften, weil das Verwaltungsgericht Berlin einer Klage der Weinhändlerin Anja Schröder aus der benachbarten Charlottenstraße stattgegeben habe, zeigte sich ein Erholungseffekt. Im Dezember 2022 lag die Zahl der Nutzer um zwei Prozent, im Januar 2023 um 49 Prozent höher als jeweils ein Jahr davor.
Anwohner wollen bis in die letzte Instanz vor Gericht ziehen
„Als Einkaufsstraße hat die Friedrichstraße unterschiedlich funktioniert, als Flaniermeile tut sie das eindeutig nicht. Das gesamte Areal – von Höhe Checkpoint Charlie bis zur Spree – braucht diese Straße als Impulsgeber. Wir appellieren an die Politik, nach der Wahl nicht weiter in 500-Meter-Abschnitten zu denken. Alle sind für Veränderung – aber bitte mit einem Verkehrskonzept für die historische Mitte Berlins, entwickelt mit den Anrainern und auf Grundlage valider Daten. Unsere Zahlen zeigen, wie dringend das mittlerweile ist“, bekräftigt Nils Busch-Petersen, Hauptgeschäftsführer vom Handelsverband Berlin-Brandenburg (HBB).
Wie berichtet geht das Aktionsbündnis davon aus, dass der Rechtsstreit um die autofreie Friedrichstraße erneut aufflammt. Helfe das Bezirksamt dem Widerspruch nicht ab, könnten Betroffene klagen – zunächst vor dem Verwaltungsgericht, hatte der Berliner Rechtsanwalt Marcel Templin im Januar erläutert. Je nach der weiteren Entwicklung ginge die Angelegenheit vor das Ober- und das Bundesverwaltungsgericht. Anja Schröder hat bereits angekündigt, falls nötig in die nächste Instanz zu gehen.
Verein Die Mitte glaubt weiterhin an den Dialog
Der Jurist, der bereits die erste Klage von Anja Schröder zum Erfolg gebracht hat, war in den vergangenen Monaten auch bei der juristischen Aufarbeitung der staatlichen Corona-Maßnahmen aktiv. Impfschäden, Lockdowns und andere Einschnitte in bürgerlichen Freiheiten gehörten zu seinen Themen.
Der Verein Die Mitte, in dem sich Einzelhändler, Immobilienunternehmen und andere zusammengetan haben, hat sich dem Aktionsbündnis nicht angeschlossen. Allerdings hält auch er seine Kritik am Vorgehen von Bezirk und Senat aufrecht. „Wir bleiben – wie immer nachvollziehbar und konstruktiv – bei unseren Zweifeln an der Sinnhaftigkeit einer erneuten Sperrung“, teilte Sprecher Conrad Rausch auf Anfrage mit. Als politisch neutraler Verein habe Die Mitte vor Weihnachten 2022 der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) und anderen in einem Brief vorgeschlagen, ein Gremium mit circa zwölf Mitgliedern aus Politik, Verbänden und Anrainern ins Leben zu rufen. Dieses Gremium soll die Erarbeitung eines Gesamtkonzepts steuern, so Rausch. Ein solcher Plan sei erforderlich. „Die jetzige Hoppla-Hopp-Maßnahme ist enttäuschend und hat etwas von ‚Täglich grüßt das Murmeltier – Politik Edition‘“, so der Sprecher.
„Wir glauben daran, dass man es nur im Dialog lösen kann. Dazu stehen und werden wir immer bereit sein“, bekräftigte Conrad Rausch.
„Uns liegen keine Daten von PlaceSense vor, die eine massive Delle der Besucherfrequenz in der Friedrichstraße durch den Verkehrsversuch belegen“, entgegnete Jan Thomsen, Sprecher der Mobilitätssenatorin, dem Aktionsbündnis am Donnerstagabend. „Auch die dem Bezirk übermittelten Daten, aus einer ersten Erhebung von PlaceSense, belegen das nicht. Sie sind ohnehin nicht überprüfbar, da Angaben zur Methodik und Quellenlage fehlen. Rohdaten wurden nicht übermittelt, sondern lediglich Datenabbildungen. Daten für die Nebenstraßen liegen bisher gar nicht vor.“
Senatsverwaltung kritisiert „monokausalen Ansatz“ des Aktionsbündnisses
Die vorliegenden Informationen zeigen, dass sich die Pandemie in der Friedrichstraße stärker als in anderen Berliner Einkaufsstraßen ausgewirkt haben, erklärte Thomsen. Bis auf eine rund dreimonatige „Gewöhnungsphase“ zu Beginn seien aber „keine zusätzlichen negativen Auswirkungen durch den Verkehrsversuch zu sehen, weil die Kurven ansonsten parallel laufen“.
Die Friedrichstraße sei als Einzelhandelsstandort schon viele Jahre vor dem Verkehrsversuch und der Fußgängerzone problematisch gewesen, und zwar auch dann schon problematischer als andere Standorte in Berlin, hieß es in der Verwaltung von Bettina Jarasch weiter. „Dies ist bekannt und häufig berichtet und öffentlich beklagt worden. Diese Probleme monokausal auf die Herausnahme des Autoverkehrs zu beziehen, greift daher schon im Ansatz zu kurz.“
„Die Friedrichstraße wäre die erste Verkehrsberuhigung einer Innenstadt, die das Gegenteil von dem bringt, was sie bringen soll und was viele andere vergleichbare Beispiele in anderen Metropolen bringen, ob in New York, London, Paris, Brüssel, Madrid, Barcelona, Mailand, Oslo, Singapur und so weiter“, so Thomsen. „Nicht selten übrigens unter anfänglichem Protest von Händler am Ort.“