Verkehrsplanung: Als Radfahren in Berlin noch verboten war

Sie kamen auf zwei Rädern, jeweils auf einem sehr großen und einem kleinen. Wo Veloziped-Fahrer auftauchten, richteten sie oft Unheil an. Weil sie sich von den seltsamen neumodischen Gefährten bedroht fühlten, galoppierten Pferde in Panik davon. Fuhrwerke kippten um, manch ein Kutscher starb qualvoll unter seinem umgestürzten Wagen.

Hochräder, Vorgänger des heutigen Fahrrads, waren natürlich auch auf vielen Gehwegen unterwegs, zum Schrecken der Fußgänger. Es dauerte nicht lange, da konnte die Berliner Polizei dem skandalösen Treiben nicht länger tatenlos zuschauen. Am 9. Mai 1881 verbot sie das Veloziped-Fahren in der ganzen Stadt. Damit waren alle Straßen und Plätze in Berlin für Zweiräder tabu. Ein für alle Mal. Das Problem war gelöst. So sah es jedenfalls aus.

Doch man ahnt es bereits, so einfach lassen sich Verkehrsprobleme nicht beseitigen. Nicht in Berlin, und schon gar nicht, wenn es um Zweiräder geht. Ist eine Fortbewegungstechnik erst einmal da, lässt sie sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Anders formuliert: „Jede Technologie schafft sich ihre eigenen Voraussetzungen.“ Das sagt jemand, der dies analysiert hat: Ural Kalender, 1991 bis 2007 als Leiter der Abteilung Verkehr in der Senatsverwaltung Chef-Verkehrsplaner Berlins. Der habilitierte Ingenieur für Straßen- und Verkehrswesen hat das Buch „Die Geschichte der Verkehrsplanung Berlins“ geschrieben, das jüngst im Kölner FGSV-Verlag erschienen ist. Das 65-Euro-Werk ist 586 Seiten dick und mehr als zwei Kilogramm schwer. Eine Darstellung, die es in diesem Umfang noch nicht gegeben hat. Vollgepackt mit Details, alten Plänen und Karten.

Auch mit einem Radfahrer-Plan von 1904, in dem nur noch einige wenige Straßen in der Innenstadt grün als für Zweiradfahrer verboten markiert sind – Unter den Linden zum Beispiel. Zwar würden heutige Radfahrer selbst das immer noch als Repression brandmarken (und ignorieren), doch für damalige Verhältnisse war es ein Fortschritt, dass der stadtweite Tabubereich auf einen kleinen Rest geschrumpft war.

Jubel beim Autobahnbau

Zwar mussten sich Radfahrer von 1893 an registrieren lassen und „Fahr-Karten“ als Dokument mit sich führen. Doch ansonsten traute sich die Polizei nicht mehr, sich dem Durchbruch des Fahrrads entgegen zu stemmen. Der Druck der Radfahrerlobby und neue Entwicklungen wie das leichter zu steuernde „Niederrad“, das mit seinen gleich großen Rädern unserem heutigem Fahrrad entspricht, trugen dazu bei.

In jeder Epoche gibt es einen Zeitgeist, dem sich diejenigen, die sich mit Verkehr befassen, nicht entziehen können. Auch die Verkehrsplaner nicht, die es erst seit dem 20. Jahrhundert gibt. „Sie sind Teil der Gesellschaft“, sagt Ural Kalender. So erklären sich auch die Schnellstraßenplanungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl im Westen als auch im Osten erarbeitet wurden.

Nicht auszumalen, wie unwirtlich Berlin heute wäre, wenn diese gigantomanischen Blaupausen für ein radikal autogerechtes Berlin vollständig verwirklicht worden wären. Wenn tatsächlich ein Gitter aus Autobahntrassen die Innenstadt zerteilen würde und große Autobahnkreuze beste Citylagen verlärmen würde: eines auf dem Oranienplatz in Kreuzberg, andere zum Beispiel neben dem jetzigen Hauptbahnhof, am Gleisdreieck oder nicht weit vom Strausberger Platz.

„Heute sieht man diese Planungen kritisch. Damals war das modern und entsprach dem Zeitgeist“, sagt der Autor. „Nach dem Krieg galt alles, was Kraftfahrzeuge betraf, als hoch und heilig. Man wollte einen Rückstand aufholen.“ Autobahnen entstanden nicht gegen den Willen der Bevölkerung – im Gegenteil. Als vor mehr als 40 Jahren das erste Teilstück der Autobahn in Steglitz fertig wurde, das durch gutbürgerliche Viertel gefräst worden war, „wurde eine Woche lang gefeiert. Eine große Feststimmung war zu spüren.“

Am Breitenbachplatz, den ein A-100-Zubringer zerteilt, seien allerdings „große Sünden“ begangen worden, sagt Kalender. Auch für die A 100 wurden Schneisen in die Stadt geschlagen. Doch in diesem Fall fällt Kalenders Bewertung anders aus: „Das ist eine Planung, von der Berlin profitiert“, sagt er. „Heute würde man diese Autobahn nicht anders bauen, allerdings würde es länger dauern“ – weil innerstädtische Autobahnen jetzt ein Streitthema sind und Anwohner vor Gericht ziehen würden, wie gegen die A-100-Verlängerung von Neukölln zum Treptower Park. „Dass im Frühjahr endlich der Bau beginnt, ist überfällig.“

A 100 schon 1862 geplant

„Es geht darum, die Innenstadt von Verkehr freizuhalten“ – das sei die Planungsphilosophie, die hinter dem 475-Millionen-Euro-Projekt steckt. Sie sei übrigens schon anderthalb Jahrhunderte alt, berichtet Kalender. Denn der planerische Ursprung der A 100 gehe auf 1862 zurück. Damals erschien der Bebauungsplan, der ebenfalls eine breite Ringstraße am Rand der heutigen Innenstadtbezirke vorsah.

Auch die Verlängerung der U-Bahn-Linie 5 hat eine lange Geschichte, so der Autor. In den 1920er-Jahren gab es erste Pläne für eine neue Ost-West-Strecke, die anfangs noch durch Kreuzberg führen sollte. Später rutschte die geplante Querachse immer weiter nach Norden – bis sie Unter den Linden ankam, wo die BVG nun den U-5-Tunnel buddeln lässt, der 2019 fertig werden soll.

Wo sieht der frühere Chefplaner noch Lücken im Verkehrsnetz? Ural Kalender winkt ab: „Mit der U 5 und der A 100 wird Berlin in den nächsten Jahren genug zu tun haben“, sagt er. Zumal die Fortführung der Autobahn in einem Doppelstocktunnel unter Friedrichshain einige „bauliche Fallstricke“ bereithalte.

Außerdem fordert ein Verkehrsmittel, das für Planer einst kaum eine Rolle spielte, Aufmerksamkeit. „Berlin ist eine Fahrradstadt geworden. Es ist richtig, dem Fahrrad mehr Wege bereitzustellen“ – auch weil es einen Teil des Autoverkehrs überflüssig macht und Straßen entlastet. Von einem Wiederaufbau der Straßenbahn im Westen, wie ihn manche fordern, hält Kalender dagegen nichts: „Das wäre wirtschaftlich eine große Sünde“ – weil es bereits ein dichtes U-Bahnnetz gebe.

Sind die heutigen Verkehrsplaner im Senat autofeindlicher? „Nein, das würde ich nicht sagen“, meint Ural Kalender. „Man muss einsehen, dass man die Straßenfläche nicht einfach vermehren kann.“

Ural Kalender: Die Geschichte der Verkehrsplanung Berlins.
FGSV-Verlag, Köln 2012 (Leseprobe).