Vorwärts in die Vergangenheit! Ist das die neue Verkehrspolitik für Berlin?
Was CDU und SPD im Wahlkampf versprochen haben, ist eine Beruhigungspille für die Auto fahrende Generation Ü60. Doch dabei darf es nicht bleiben.

Nun also Schwarz-Rot. Die Koalitionsverhandlungen haben begonnen, und es wird sich zeigen, ob sich in den nächsten drei Jahren wie versprochen wesentliche Dinge in Berlin ändern.
Die spannendste Frage richtet sich aber nicht an die Politiker der neu aufgelegten sogenannten großen Koalition. Sie lautet, ob Berlin und die strukturkonservativen Berliner wirklich dazu bereit sind, andere Lösungen als früher zu akzeptieren. Umfassender Wandel, echte Innovation, Orientierung an auswärtigen Vorbildern können in dieser Stadt auf Widerstand stoßen. Am besten ist, es ändert sich nichts. Oder, anders formuliert: Alles soll so werden, wie es nie war. Vorwärts in die Vergangenheit!
Das gilt vor allem für die Mobilitätspolitik. Sicher wünschen sich nicht wenige Menschen, dass der Straßenraum gerechter aufgeteilt wird, klimafreundliche Fortbewegungsarten mehr Platz erhalten, die Stadt in puncto Verkehrswende endlich mit anderen großen Städten wie Paris, Oslo, selbst New York gleichzieht. Doch eine größere Zahl von Berlinern hat bei der Wahl klar gezeigt, dass sie das nicht so sieht.
Mobilitätsgesetz ändern, U-Bahnstrecken verlängern
Was vor und während des Wahlkampfs aus den künftigen Berliner Regierungsparteien zu hören war, lässt einige Sympathie für einen solchen Kurs erwarten. Im Interview mit der Berliner Zeitung beantwortete CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner die Frage, ob er das Berliner Mobilitätsgesetz ändern werde mit Ja. Der künftige Regierende Bürgermeister kritisierte, dass für Radwege, auf denen mutmaßlich nur wenige Radfahrer unterwegs sein werden, Autostellplätze verschwinden. Wegner fordert mehr Parkhäuser und hält es für nötig, dass die Autobahn A100 bis Friedrichshain und Lichtenberg verlängert wird.
Bei der SPD sandte Franziska Giffey Autofahrern, die sich von grüner Verkehrspolitik an den Rand gedrängt fühlen, versöhnliche Botschaften. Für uns ist auch das Auto wichtig, sorgt Euch nicht! Der Einsatz für den Ausbau des U-Bahn-Netzes ließ sich ebenfalls so lesen. Es wirkte wie eine Reminiszenz an alte West-Berliner Zeiten, in denen neue Tunnel auch deshalb vorangetrieben wurden, weil U-Bahnen Autos nicht stören.
Eine sanfte Verheißung für die Berliner Boomer
A100 verlängern, mehr Parkhäuser, Mobilitätsgesetz ändern, U-Bahn-Netz erweitern: Was Christ- und Sozialdemokraten während des Wahlkampfs in Abgrenzung zu den Grünen signalisiert haben, wirkte wie eine einzige große Beruhigungspille für die große Auto fahrende Generation Ü60. Eine sanfte Verheißung für Boomer, von denen einige langsam merken, dass Gesundheit und Körperkraft schwinden – weshalb wohnungsnahe Straßen und Stellplätze fürs private Auto wichtig werden.
Auffällig im Wahlkampf war, wie Berlin durch die Konstruktion eines angeblichen Gegensatzes von Neuem geteilt wurde. Auf der einen Seite steht die Innenstadt, in der Grünen-Wähler Platz für Pop-up-Radwege, Sitzgruppen und andere unproduktive Freizeitbereiche beanspruchen würden. Auf der anderen Seite die Außenbezirke, deren Bewohner auf ihre Privatautos angewiesen seien, um rechtschaffen ihr Geld zu verdienen. Beides ist übertrieben. So wohnen auch außerhalb der Ringbahn Menschen, die ein Recht darauf haben, sich per Rad und zu Fuß sicher bewegen zu können.
Doch richtig ist, dass in den Außenbezirken eine andere Sicht auf die Stadt vorherrscht. Wer als Pendler mit dem Auto tagtäglich weite Distanzen überwinden muss, wünscht sich die Stadt als funktionierende Maschine und Straßen als breite Transiträume. Ob sie Anwohnern einen angenehmen Aufenthalt bieten, ist ihnen egal. Diese Sicht wird nach dem Ausscheiden der Grünen aus dem Senat wieder an Bedeutung gewinnen.
Nicht die Radfahrer sind schuld, wenn Straßenverkehr klumpt
Berlin ist nicht Bullerbü, hat SPD-Spitzenfrau Franziska Giffey einmal gesagt. Damit hat sie recht, aber nicht, wie sie es eigentlich gemeint hat. Während Dörfer und Städte auf dem Land im Kraftfahrzeugverkehr ertrinken, kann Berlin beim besten Willen nicht als Autostadt bezeichnet werden. Es gibt weltweit kaum eine größere Ansiedlung mit einem so niedrigen Motorisierungsgrad und mit einem so hohen Anteil von Haushalten ohne Pkw. Der Anteil des öffentlichen Verkehrs erreicht Werte, die Metropolen der Mobilitätswende wie Kopenhagen in den Schatten stellen.
Allerdings haben Zuspitzungen wie die Bullerbü-These dazu geführt, dass es kaum noch möglich ist, vernünftig über Mobilität zu diskutieren. Während sich viele Menschen über Rüpelradler und sogar immer noch über Pop-up-Radwege echauffieren, gerät aus dem Blick, dass es weiterhin vor allem die Kraftfahrer selbst sind, die sich das Leben zur Hölle machen. In den meisten Stadtgebieten sind nicht die wenigen Radfahrer schuld, wenn Straßenverkehr klumpt. Es liegt daran, dass es immer mehr Autos gibt und die Fortbewegung per Auto oft die beste Option ist.
Eine ungemütliche Kulisse kalter Investorenarchitektur
Ein anderes Beispiel: Weil eine unbedeutende Meile wie die Friedrichstraße auf gerade mal 500 Meter zu einem Fußgängerbereich wird, fabulieren manche eine Art Weltuntergang herbei.
Natürlich lässt sich fast alles an dem Vorhaben kritisieren: dass ausgerechnet diese ungemütliche Kulisse kalter Investorenarchitektur ausgewählt wurde, eine „Piazza“ zu werden, dass die Sperrung im Januar begann, wenn Flaneure lieber in der Wohnung bleiben, dass das gegen Widerstand durchgesetzte Projekt wie eine grüne Zwangsbeglückung wirkt. Es wäre nicht schade, wenn wieder Autos fahren dürften. Doch ganz bestimmt ist es nicht grundsätzlich eine Katastrophe, wenn in Berlin weitere Fußgängerbereiche eingerichtet werden. Der Hackesche Markt, die Randbereiche des Gendarmenmarkts oder des Breitscheidplatzes wären aber sicher bessere Orte dafür.
Auch die Verfechter der Mobilitätswende haben nicht immer glücklich agiert. Klimapolitisch mag es richtig sein, massiv Autostellplätze abzubauen oder fast alle privaten Autofahrten in der Innenstadt zu verbieten. Doch Strafvisionen dieser Art, die auf absehbare Zeit nicht realisierbar sind, haben die Öffentlichkeit verschreckt.
Ein Mindestmaß an Verkehrssicherheit, ein Mindestbeitrag zum Klimaschutz
Das private Auto wird auf absehbare Zeit zum Mobilitätsangebot gehören, weil viele Menschen es so wollen. Wichtiger, als unablässig gegen diesen Fakt anzurennen und Kräfte zu verschwenden, wäre es, den Autoverkehr weiter zu zivilisieren. Die Berliner müssen endlich frei wählen können, wie sie sich bewegen. Vielerorts gibt es faktisch nur eine Wahl: das Auto. Dass sich das ändern muss, ist eine Frage der Gerechtigkeit.
Die große Koalition sollte die ideologischen Diskussionen nicht fortführen. Was Berlin jetzt braucht, sind pragmatische Lösungen, um ein Mindestmaß an Verkehrssicherheit und einen Mindestbeitrag des Verkehrs zum Klimaschutz zu erreichen.
Die Besetzung der Facharbeitsgruppe Mobilität, Klimaschutz, Umweltschutz, die in den nächsten Tagen ihre Arbeit aufnimmt, um zur Koalitionsvereinbarung beizutragen, lässt hoffen. Nicht nur der Vorsitzende Sven Heinemann, auch Stephan Machulik (ebenfalls SPD), Danny Freymark und Alexander Kaczmarek (beide CDU) gelten als besonnene Pragmatiker. Kaczmarek, einst Haushaltspolitiker und heute Konzernbevollmächtigter der Deutschen Bahn, und Heinemann haben ihr Faible für den öffentlichen Verkehr bereits unter Beweis gestellt - für ein Thema, das bei den Grünen im parlamentarischen Raum unterbelichtet ist, auch wenn die grün geleitete Senatsverwaltung umfangreiche Investitionsprogramme auf den Weg gebracht hat.
Die Arbeitsgruppe sollte nun Vorschläge erarbeiten, wie notwendiger Wandel mit den Besonderheiten dieser Stadt versöhnt werden kann. Berlin braucht einen Neuanfang bei der Mobilitätspolitik. Aber ganz gewiss keinen Stillstand und auch keinen Rückschritt.