Kevin Hönicke über seine Depression: „Du schaffst das nicht, gleich kippst du tot um“
Seit Lichtenbergs Vize-Bürgermeister sich zu der Krankheit bekannt hat, erreichen ihn Mails aus ganz Deutschland. Ein Aufenthalt in einer Privatklinik rettete ihn, erzählt er im Interview.

Er habe ja mit vielem gerechnet, aber so viel Zuspruch habe ihn dann doch überrascht: Seit Kevin Hönicke, SPD-Politiker und Vize-Bezirksbürgermeister von Lichtenberg, sich am Dienstag per Webseite und sozialen Medien zu seiner Depression bekannt und mit Gerüchten „reinen Tisch“ gemacht hat, kommt er mit dem Lesen kaum hinterher. Allein die Zahl der Kommentare in den sozialen Medien schätze er auf weit mehr als 500, dazu fast 100 E-Mails von Absendern in ganz Deutschland. Allein am Mittwoch zwischen fünf und sechs Uhr am Nachmittag habe er 40 Mails bekommen.
Politiker aller Parteien hätten sich gemeldet, teilweise auch per Telefon. „Sie haben mir zu dem mutigen Schritt gratuliert, wenn man das so sagen kann“, sagte Hönicke der Berliner Zeitung. „Endlich traut sich das mal ein Politiker“, heiße es immer wieder. Auch andere Politiker hätten ihm im Vertrauen von eigenen psychischen Problemen erzählt – dass sie aber nicht den Mut gehabt hätten, damit an die Öffentlichkeit zu gehen.
Auch ihm sei es nicht leichtgefallen, öffentlich über seine Krankheit zu sprechen. Dabei fällt sein Bekenntnis sehr offen und detailliert aus. Er habe zwar weiter 14 Stunden am Tag gearbeitet, auch wenn er – genauso wenig wie viele Psychologen – erklären könne, wie das funktioniert habe. Dafür sei er privat in ein tiefes Loch gefallen. Monatelang habe er nur zwei Stunden geschlafen, sich zum Duschen zwingen müssen, morgens eine halbe Stunde gebraucht, um ein paar Socken auszusuchen.
Je mehr Reaktionen ich bekomme, desto weniger bereue ich diesen Schritt
Dann sei die Angst vor vielen Menschen auf engem Raum dazugekommen: Erst konnte er nicht mehr einkaufen, nicht mehr Bahn fahren, nicht mehr Bus. Irgendwann traute er sich auch in kein Taxi mehr, lief nur noch zu Fuß durch die Stadt. Irgendwann habe er drei Stunden vor dem Rathaus gestanden, unfähig, es zu betreten. Irgendwann sei ein Kollege an ihm vorbeigekommen und habe aus Spaß gefragt: „Na, trauste dich nicht rein?“ Der Mann habe ja nicht wissen können, dass es genau so war.

Die Ausflüchte funktionierten, schließlich ist Kevin Hönicke bekannt dafür, dass er auch mal ordentlich austeilt, kein Blatt vor den Mund nimmt, aneckt. Auch noch, als er 25 Kilo abgenommen hatte, „als mein Gesicht immer komischer aussah“. Nur sein enges Team habe Bescheid gewusst. Er wollte nicht, dass die Depression an die Öffentlichkeit kommt.
Tatsächlich leiden immer mehr Menschen unter Depressionen, am häufigsten fehlen die Berliner Erwerbstätigen wegen psychischen Erkrankungen. Arbeitsausfälle wegen Depression, Angststörungen oder chronischer Erschöpfung haben im vergangenen Jahr massiv zugenommen. Und viele Betroffene tun sich schwer, eine Klinik zu finden, die Wartezeiten in der Psychosomatik können sich leicht auf sechs oder neun Monate belaufen. Auch er habe erfolglos alle möglichen Kliniken angefragt, sagt Hönicke. „Ich wurde immer als Erstes gefragt, ob ich suizidgefährdet sei. Wenn ich dann gesagt habe, das könnte ich meinen Kindern nicht antun, war das ein Ausschlusskriterium, nach dem Motto: „Dem geht es noch nicht schlecht genug.“
Ich kann nur sagen: Dass ich weitergearbeitet habe, bereue ich sehr
Irgendwann lieferte sich Hönicke dann in eine private Akutklinik in Brandenburg ein. Für sechs Wochen. „Länger konnte ich mir das nicht leisten. Da kostet ein Tag 600 Euro.“ Er erzählt, wie bizarr der Aufenthalt dort gewesen sei: Viele Prominente, die nach außen versuchten, den Schein aufrechtzuerhalten: „Die taten so, als wären sie gerade mitten im Filmdreh oder auf Tournee. Online ist ja einiges möglich.“ Dabei haben wir unsere Tage zwischen Gruppen- und Tanztherapie verbracht. Aber auch Hönicke versuchte, den Klinikaufenthalt zu verschweigen, auch wenn das sehr schmerzhaft gewesen sei: Landeschef Raed Saleh hatte ihn für wichtige Parteiämter ins Spiel gebracht. „Und natürlich konnte er nicht nachvollziehen, warum ich tagelang nicht reagiert und schließlich abgelehnt habe.“
Auch in der anschließenden Tagesklinik tat Hönicke noch, als wäre alles gut, 15 Wochen lang: In der Klinik verschwieg er, dass er nachmittags arbeitete, bei der Arbeit erzählte er nicht, dass er in der Klinik war. Er wollte nicht, dass jemand von seinen Depressionen erfuhr. Da zu der Zeit wegen Corona noch viele Sitzungen online stattfanden, habe das auch ganz gut geklappt.
Erst jetzt, Monate später, habe er die Kraft gefunden, mit der Diagnose an die Öffentlichkeit zu gehen. „Und je mehr Reaktionen ich bekomme, desto weniger bereue ich diesen Schritt“, sagt Hönicke. Die meisten Kommentare und Nachrichten seien positiv. Viele Menschen, die selbst unter Depressionen litten, meldeten sich bei ihm, fragten ihn oft nach Ratschlägen. Mit welchen Tricks er es geschafft habe, trotzdem zu arbeiten, wie er aus dem Tief wieder herausgekommen sei. „Ich kann nur sagen: Dass ich weitergearbeitet habe, bereue ich sehr. Das hat mich noch tiefer in die Depression getrieben.“
Drei Monate lang habe er in Sitzungen gesessen, manchmal mit der Angst: „Du schaffst das nicht, gleich kippst du tot um.“ Vielleicht gebe es leichte Formen der Depression, die man selbst in den Griff bekommen könne. Und auch wenn er kein Experte sei: In den meisten Fällen sei es einfach nur wichtig, sich professionelle Hilfe zu holen.
Und ob man die Depression bekannt machen soll – auch da kann Hönicke keinen Ratschlag geben. Ihm hätte geholfen, wie Prominente wie Kurt Krömer oder Sido mit ihrer Krankheit umgehen. Schließlich gibt es auch Lebenssituationen oder Jobs, gerade in der freien Wirtschaft, in denen so ein Bekenntnis wenig förderlich sei. Ob man ihm wegen der Erkrankung jetzt nicht mehr zutraut, einen guten Politikerjob zu machen – darüber kann Kevin Hönicke nur spekulieren. Zur Not könnte er wieder in einem seiner alten Berufe arbeiten, als Lehrer oder Kfz-Mechaniker, sagt er.
Telefonseelsorge: Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen Sie rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen Sie Ihre Sorgen und Ängste teilen können. Auch ein Gespräch via Chat ist möglich. telefonseelsorge.de
Kinder- und Jugendtelefon: Das Angebot des Vereins Nummer gegen Kummer richtet sich vor allem an Kinder und Jugendliche, die in einer schwierigen Situation stecken. Erreichbar montags bis sonnabends von 14 bis 20 Uhr unter 11 6 111 oder 0800 – 111 0 333. Am Sonnabend nehmen die jungen Berater des Teams „Jugendliche beraten Jugendliche“ die Gespräche an. nummergegenkummer.de.
Muslimisches Seelsorge-Telefon: Die Mitarbeiter von MuTeS sind 24 Stunden unter 030 – 44 35 09 821 zu erreichen. Ein Teil von ihnen spricht auch Türkisch. mutes.de
Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention: Eine Übersicht aller telefonischer, regionaler, Online- und Mail-Beratungsangebote in Deutschland gibt es unter suizidprophylaxe.de