Wahlbetrug und Stimmklau in Berlin: Wenn sich der innere Trump plötzlich meldet

Beim ersten Versuch durfte ich noch meine Kreuzchen machen, nun die Diagnose: nicht wiederwahlberechtigt. Kann ich etwas Unerwartetes, Seltsames oder vielleicht Verrücktes dagegen tun?

Von B nach C, Ostbesuch, 263 km
Von B nach C, Ostbesuch, 263 kmBerliner Zeitung/Pajović/Amini

Berlin ist, wenn Menschen unerwartete Dinge tun, seltsame Dinge, manchmal verrückte Dinge. An einem verregneten Morgen etwa, einfach so auf der Straße, die mehr Bühne ist und absurdes Theater, zumal hier auf der Warschauer Brücke – aber was genau macht diese Frau da vor mir eigentlich?

Sicher scheint allenfalls: Sie trägt eine Gitarre bei sich. Alles andere muss freies Gedankenspiel sein: Vielleicht ist sie eine unbekannte Singersongwriterin auf dem Weg zum Proberaum. Vielleicht wird sie sich gleich in den nächsten U-Bahnhof setzen und dort ein paar traurige Regenwetterakkorde in Moll zupfen. Vielleicht wird sie jemand dabei filmen und vielleicht wird sie dann ein paar Millionen Likes später eine berühmte Singersongwriterin sein.

Oder: Vielleicht hat sie ihren Regenschirm vergessen.

Doch selbst das würde nicht erklären, warum sie jetzt auf der Warschauer Brücke wie wild auf die Tropfen eindrischt, als wäre ihre Gitarre ein Baseballschläger und sie plötzlich in eine irgendwie schiefe und dann gegen irgendetwas randalierende Gemütslage geraten.

Oder vielleicht, denke ich, ist es doch eher ein Ausdruckstanz, ein neuer Berlintrend, den ich verpasst habe, weil ich nicht mehr in dieser Stadt lebe. Als Besucher, der auf eine Runde Speeddating mit der Vergangenheit vorbeigekommen ist, kann ich vielleicht nicht mehr die geheimen Codes entschlüsseln. Als Eindringling, wie ich mich an diesem verregneten Morgen fühle, begreife ich vielleicht nicht mehr, wie das System Berlin funktioniert. Was so geht, was wo läuft und vor allem wohin.

Baseballschlägergitarre
BaseballschlägergitarrePaul Linke

Andererseits ist es schon noch so, dass mir jede vertraute Ecke eine Botschaft entgegenduzt: Weißt du noch? Erinnerst du dich? Und dann mehr überrascht als vorwurfsvoll: Wo warst du so lange?

Was noch eingebildeter und was schon tatsächlich erlittener Trennungsschmerz ist, weiß ich dann auch nicht mehr, als ein Mann mich mit stechenden Schritten überholt. Er trägt seltsam spitze Ohren, die unironisch aus seiner Mütze herauswachsen: Elfenohren! Wusstest du etwa nicht, dass es hier Elfen gibt? Anscheinend nicht.

Unironische Elfenohren
Unironische ElfenohrenPaul Linke

Später steige ich in die U1, die Scheiben sind von außen nass und von innen beschlagen, und klarer wird mein Blick auf Berlin dadurch nicht. Vielleicht, denke ich also, könnten der Elfenohrenmann und die Frau mit der Baseballschlägergitarre eine neue Berlinband gründen, die dann einen neuen Berlinsong schreibt, der mir dabei hilft, die Codes zu entschlüsseln und das System wieder zu begreifen.

Dass bald etwas passieren wird in Berlin, bemerke ich spät, als mich die U1 in Kreuzberg wie etwas lediglich Angeknabbertes ausspuckt. „Das Wesentliche“, steht da oben auf einem Plakat und darunter: „Wählen Sie.“ Als wäre es egal, wen oder warum man wählen sollte. Als würde stimmen, was alle Berlinbasher immer sagen: Diese Stadt ist so kaputt und gescheitert und unregierbar, dass sich jede Stimme erübrigt wie ein Teelöffel Salz im Meer. Und dann plötzlich meldet sich der innere Trump in mir und schreit: „Wahlbetrug! Stimmklau!“

Ja, denke ich, während mir der Berliner Regen falsche Tränen ins Gesicht sprüht, ich wurde betrogen und beklaut. Bei der letzten Wahl durfte ich trotz Rot-grün-rot-Schwäche noch meine Kreuzchen machen, und jetzt hat man mich übersehen, vergessen, ich bin buchstäblich abgemeldet. Die Diagnose: nicht wiederwahlberechtigt. Ich hätte etwas Unerwartetes, Seltsames, vielleicht Verrücktes dagegen tun können, aber ich bin ja kein Berliner mehr.


In der Kolumne „Ostbesuch“ berichtet Paul Linke alle zwei Wochen aus seinem Zwischenleben in Chemnitz und Umgebung. Sachsen sucks? Von wegen!