Es gibt auch leere Züge: Danke, 9-Euro-Ticket!

Der Aktionsmonat für günstiges Fahren packte die Reiselust vieler Berliner. Auch unser Autor nutzt die Gelegenheit: Er berichtet von Wochenend-Trips durch den Osten und fragt: Warum bleibt das Ticket nicht?

Möwen auf der Jagd nach Fischbrötchen?
Möwen auf der Jagd nach Fischbrötchen?imago/Nordlicht

Ich steige am Bahnhof aus. Ein Flair vom Wilden Westen weht hier durch die brandenburgische Provinz. Kein Mensch ist zu sehen, der Wind rauscht, der Zug fährt ab. Mein Handy bringt mich an den Strand eines Sees, der am frühen Nachmittag noch leer ist. Von der Krummen Lanke oder vom Plötzensee kenne ich das nicht. In meiner Hand ein Buch über einen jüdischen Widerstandskämpfer im Warschauer Ghetto, ich  beobachte die wenigen Familien, die langsam doch kommen. Einige kommen von der anderen Oderseite, wie an der polnischen Sprache und am üppigen Picknick zu erkennen ist. Ich weiß, es wird ein wunderbarer Tag werden.

Ich bin nach Müllrose gefahren, obwohl ich eigentlich an den Helenesee wollte. Nach kurzer Recherche fand ich jedoch heraus, dass die „kleine Ostsee“ für Badegäste gesperrt ist. Wegen der Rutschgefahr an den Ufern ist der Strand schon seit über einem Jahr geschlossen. Also brauchte ich eine Alternative für das zweite 9-Euro-Ticket Wochenende. Das erste habe ich ausgelassen, da war zu viel los. Von Brandenburg kenne ich schon viel, aber ich war froh, dass mir ein Freund eine Liste von Seen in der Umgebung zusammengestellt hat. Seine erste Empfehlung: Auf nach Müllrose!

Mit dem Regionalzug geht es unspektakulär bis an die deutsch-polnische Grenzstadt. Dort auf den Anschlusszug nach Müllrose wartend, sehe und höre ich eine Menge ukrainischer Mitmenschen in den Zug nach Przemysl einsteigen. Es passierte etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte: Einige verabschieden sich, sie weinen, sie sehen mitgenommen aus. Ich frage mich: Warum fahren sie wieder zurück ins Kriegsgebiet?

Der einfahrende Zug nach Müllrose beendet die Gedankenspiele. Im superkleinen und leeren Regio geht es für 20 Minuten durch die brandenburgische Provinz. Unweit von uns sitzen zwei Männer mit Glatzen, schwarzer Kleidung und 88-Shirts. Meine Begleitung  und ich sind die einzigen Berliner.

Vorher hatte ich befürchtet, mitten ins 9-Euro-Chaos zu geraten, vor dem überall gewarnt wurde. Überfüllte Züge und so weiter. Allerdings gilt wohl eher für beliebte Strecken an die Ostsee oder den Spreewald. Nach Müllrose will an diesem heißen Sonntag niemand.

Blick auf die Oder (aus Polen)
Blick auf die Oder (aus Polen)Privat

Am späten Nachmittag geht es zurück nach Frankfurt, kurz über die Oder-Brücke nach Polen, um den Hunger mit Piroggen (polnische Teigtaschen) zu stillen. Die Rückfahrt endet nicht am Ostkreuz, sondern wegen Gleisarbeiten schon in Erkner, was den gelungenen Tag nicht abwertet.

Der Geheimtipp in der Uckermark

Nächstes Wochenende, nächstes Ziel: Parsteiner See. Ich suche mir mit meiner Reisebegleitung ein schattiges Plätzchen. Es sind 37 Grad, wir nehmen jedes laue Lüftchen mit und springen an einer wilden Badestelle sofort ins Wasser. Das Wasser ist fantastisch. Nicht nur erfrischend, sondern unfassbar klar und sauber. Mit meiner Taucherbrille erkunde ich den See und schwimme eine längere Strecke. Bei dem Wasser frage ich mich, warum Leute überhaupt in Kroatien oder Ägypten Urlaub machen.

Wir haben uns den See verdient. Den direkt mit der Bahn kommt man hier nicht hin. Die erste Etappe mit dem Regio nach Chorin bewältigen wir problemlos. Keine Zugverspätung, wenig Mitreisende. Das idyllische Kloster Chorin lassen wir links stehen - und begaben uns auf einen 90-minütigen Fußmarsch durch die Wald- und Wiesenlandschaft.

Nicht Sommer-Touristen oder wir mit unserer Lust auf Brandenburg freuen sich, wenn sie überhaupt davon mitbekommen, über dieses günstige Ticket, besonders für einkommensschwache Familien ist die Aktion eine wichtige Entlastung, gerade in Zeiten der Inflation. Während wir unsere Brote mit Radler runterspülen, überlegen wir die Zukunft des 9-Euro-Tickets: Warum bleibt es nicht? Warum gibt es nicht wirklich günstige Angebote wie das Wochenend-Ticket in den 90er-Jahren? Hier sind die Züge jedenfalls leer.

Nach ein paar Stunden geht es über Campingplätze und den Wald zurück nach Chorin. Nach einer Mücken-Attacke auf dem Weg überlegen wir uns kurz, unseren Daumen an der Landstraße zu heben und bis zum Bahnhof zu trampen. Erfolg hatten wir dabei jedoch nicht und kamen durchgestochen, aber ausgeruht in Gesundbrunnen wieder an. Das 9-Euro-Ticket konnte auch an diesem Sonntag vollends überzeugen.

Auf in die „Badewanne Berlins“

Die nächste Tour beginnt suboptimal. Zehn Minuten vor Einfahrt des Zuges am Südkreuz kommt die Meldung: „Liebe Fahrgäste, leider fällt der Regionalzug nach Rostock aufgrund eines Feuers in Teltow aus.“ Der Satz senkt die Reiselust von mir und den vielen wartenden Pendlern, Touris, und Studenten auf den Tiefpunkt. Ich verfluche die Deutsche Bahn für die zweistündige Wartezeit.

Ein kurzer Blick in die Bahn-App genügt jedoch, um zu sehen, dass der entfallene Zug gar nicht ausfällt, wie am Gleis mitgeteilt, sondern über Ostkreuz umgeleitet wird. So sprinten wir mit anderen Schlauen schnell in die Ringbahn und erreichen glücklich, aber leicht gestresst den Zug. Der war dafür relativ leer und ohne Probleme ergatterte ich einen Sitzplatz. Auch das gibt es.

Ein Kurztrip nach Rostock – und an die Badewanne der Berliner – ist ein Evergreen. Ich war unzählige Male in meinem Leben in der größten Stadt Mecklenburg-Vorpommerns. Als Kleinkind mit den Eltern, mit der Schulklasse, in den Ferien, Auswärtsspiele bei Hansa, jedoch immer mit dem Auto, Bus oder Sonderzug. Noch nie mit dem Regionalzug.

Den Abend genieße ich nach 80-minütiger Verspätung mit Freunden in der Kröpeliner Vorstadt, dem Kreuzberg Rostocks, vorbei am „Pornobrunnen“ (offiziell: Brunnen der Lebensfreude) bis zum innerstädtischen Hafen. Ein charmanter Ort mit Kleinbooten und einem Mix aus Rostocker Pöbel, Austauschstudenten und älteren Pärchen, die einen Spaziergang machen. Unter Rostockern ist das Geschicklichkeitsspiel „Wikinger Schach“ (auch Kubb genannt) ein absoluter Hit. Man versucht mit einem Stab die Holzklötze der gegnerischen Mannschaft umzuwerfen. Etwas Strategie und ein wenig Glück sind die perfekten Zutaten für das spannende Spiel.

Sonnenuntergang am Rostocker Hafen
Sonnenuntergang am Rostocker HafenPrivat

Auch hier ist das 9-Euro-Ticket Thema. Eine Bekannte wird am Tag darauf nach Greifswald fahren, ein anderer Freund sich Lübeck anschauen. Die Bilanz nach dem ersten Aktionsmonat ist durchweg positiv: „Das Ticket wird echt gut genutzt“, sagt einer aus der Gruppe. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) spricht von 21 Millionen verkauften Sonderfahrkarten. Hinzu kommen zehn Millionen Abos, die das Ticket automatisch erhalten haben. Die Zielmarke von 30 Millionen Tickets wurde somit sogar überschritten.

Zum Ende des Kurztrips geht es selbstverständlich noch nach Warnemünde, wo wir ein, zwei, drei Fischbrötchen verhaften. Die Rostocker Möwen versuchen unseren Seelachs zu stehlen, jedoch schlinge ich die Schrippen wie ein Profi schnell runter. Ein Touri-Pärchen hat weniger Glück. Die Möwe fliegt von hinten heran und schnappt sich ihr Matjes-Brötchen. Ich verkneife mir ein Lachen und höre nur wie die Dame sich über die Vögel bei ihrer Begleitung beschwert: „Mist. Hast du nochmal vier Euro?“

Am Ende dieser Reise noch ein schneller Blick auf die Ostsee. Wie wäre es, immer am Meer zu leben? Während ich den Feierabend im Volkspark Wilmersdorf verbringe, begehen die Rostocker ihren Abend mit Fischbrötchen und Meeresrauschen. Übrigens: Der Regionalzug zurück nach Berlin hat eine 30-minütige Verspätung. Hauptsache Heimathafen! Wo geht's dieses Wochenende hin?