Was ein Berliner Netzwerk der Wärme mit dem Erdbeben in der Türkei zu tun hat

In Berlin verbinden sich Nachbarschaften: 330 Einrichtungen machen schon mit. Die Idee ist simpel, der Effekt kann groß sein. Ein Ortstermin in Kreuzberg.

Neriman Kurt, Leiterin des Kreuzberger Stadtteilzentrums Familiengarten.
Neriman Kurt, Leiterin des Kreuzberger Stadtteilzentrums Familiengarten.Emmanuele Contini

Einige Senioren haben sich angemeldet. Sie werden am frühen Nachmittag im Stadtteilzentrum Familienarten an der Kreuzberger Oranienstraße erwartet, und natürlich sprechen sie auch über die Katastrophe, das verheerende Erdbeben in der Türkei und in Syrien, dem Tausende Menschen zum Opfer gefallen sind, das Abertausende obdachlos gemacht, entwurzelt hat. Eine Runde voller Ratlosigkeit, Fassungslosigkeit, Trauer wird es werden. Die Senioren stammen aus der betroffenen Region. Sie kamen in den Sechzigern, Siebzigern nach Berlin, gehören zur ersten Generation der sogenannten Gastarbeiter.

Neriman Kurt ist die Leiterin des Zentrums in der Oranienstraße, sie malt mit den Zeigefingern beider Hände Anführungszeichen in die Luft, als sie das Wort ausspricht: „Gastarbeiter“. Von Gästen kann längst nicht mehr die Rede sein. Sie sind auch im Stadtteilzentrum weit mehr als das. Sie gehören zu dieser Anlaufstelle, die es seit 1990 gibt, haben gemeinsam erlebt, wie sich der Kiez drumherum wandelte. Und ihr Kiez verändert sich weiter. „Alle gesellschaftlichen Themen spiegeln sich bei uns wieder“, sagt Neriman Kurt. „Gentrifizierung ist zum Beispiel ein großes Thema.“ Die Verdrängung der angestammten Bewohner durch wohlhabendere Klientel. Oder die Energiekrise, ebenso die Folgen der Inflation. Oft kommen viele Probleme auf einmal zur Sprache. Und jetzt eben das Erdbeben. „Es wird uns in der kommenden Zeit stark beschäftigen“, sagt Kurt. Der Seniorentreff sei erst der Anfang.

Neriman Kurt berichtet an diesem Mittwochmorgen in ihrem Zentrum über ein Projekt mit dem Namen „Netzwerk der Wärme“. Der Berliner Senat finanziert es mit 25,8 Millionen Euro aus einem Nachtragshaushalt. Eine Million erhält jeder Bezirk. Die kann er an verschiedene Einrichtungen verteilen. Kreuzberg zum Beispiel hat bereits 808.000 Euro ausgegeben. Das Geld soll Menschen helfen, die wegen der Entwicklungen seit dem Krieg in der Ukraine an den Rand ihrer finanziellen Möglichkeiten geraten. Es geht sehr konkret um Wärme, um die Heizkostenabrechnung, um den täglichen Bedarf insgesamt, aber auch zum Beispiel darum, Kindern Nachhilfe zu geben. „Als wir das Projekt ins Leben gerufen haben, hatten wir schon einen weitergehenden Begriff von Wärme im Sinn“, sagt Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke).

Sie ist an diesem Morgen in das Familienzentrum gekommen. Hin und wieder besucht sie Einrichtungen, die sich am Netzwerk beteiligen. „Inzwischen machen 330 mit“, sagt Katja Kipping. Von der Stadtteilbibliothek Buch ganz im Norden bis zum Gemeinschaftshaus Lichtenrade am südlichen Zipfel der Stadt. Vom Humboldt-Forum im Zentrum bis zum Kiezklub Rahnsdorf im Speckgürtel Berlins. Pro Woche melden sich an die zehn Interessenten, die sich ebenfalls beteiligen wollen. „Wir würden das Projekt gern verstetigen“, sagt Katja Kipping. Vorerst gibt es allerdings nur einen Etat für 2023. „Um eine längerfristige Lösung wird es politische Debatten geben.“ Nach der Wahl. Und falls viele Politiker im Abgeordnetenhaus einen Nutzen im Wärmenetzwerk erkennen. Das jedenfalls hofft die Senatorin.

Ein Netzwerk der Wärme für ganz Deutschland?

Jörg Richert fasst die Idee hinter dem Wärmenetzwerk in einem Satz zusammen: „Wir wollen Menschen zusammenbringen“, sagt der Geschäftsführer des Vereins Karuna, einer der großen sozialen Player in Berlin, der sich um Kinder und Jugendliche in Not kümmert. „Man sollte darüber nachdenken, ob man das Netzwerk auf ganz Deutschland ausweitet.“ Bis jetzt kommt das Miteinander im Kleinen zustande. Wenn etwa Besucher des Humboldt-Forums auf einen Schachgroßmeister treffen, der wohnungslos ist, allerdings gar nicht dem Klischee eines Menschen ohne eigenem Dach über dem Kopf entspricht. Oder eben wenn Neriman Kurt mit ihren Gästen spricht.

An diesem Morgen sitzt ein älterer Herr an einem der Tische im Stadtteilzentrum. Er beugt sich tief über sein Smartphone. Vielleicht liest er die Nachrichten des Tages, die Meldungen aus dem Erdbebengebiet. Vielleicht quält er sich aber auch mit einem digitalen Antragsformular herum. „Wir haben hier sehr häufig Menschen, die mit solchen Anträgen einfach nicht zurechtkommen“, sagt Neriman Kurt. Bürokraten-Deutsch hat seine Eigenheiten.

Sprache ist ein wichtiges Thema im Zentrum an der Oranienstraße. Nicht erst nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges. Nicht selten wenden sich Eltern an Neriman Kurt, ihre Kollegin oder eine der ehrenamtlichen  Helferinnen. „Sie sagen: Wir können unseren Kindern nicht mehr bei den Hausaufgaben halfen.“ Dann ist das Netzwerk gefragt, die Stadtteilbibliothek vielleicht, der pensionierte Lehrer aus dem Nachbarhaus oder jemand, der jemanden kennt, der sich auskennt. Ein Netzwerk der Wärme im übertragenen Sinn. Und manchmal geht es um einen Ort, an dem sich Menschen gegenseitig Trost spenden. Dann, wenn in der fernen Heimat die Erde bebt.