Was wissen Seymour Hersh und Gerhard Schröder über das Bernsteinzimmer?

Seit Jahrzehnten suchen Privatdetektive, Schatzsucher und Geheimdienstleute das verschwundene Bernsteinzimmer. Aufregender als die Wahrheit wäre eine Verschwörung.

Von B nach C, Ostbesuch, 263 km
Von B nach C, Ostbesuch, 263 kmBerliner Zeitung/Pajović/Amini

Das Bernsteinzimmer ist eine beispiellose Farborgie aus Gelb und Gold, Orange und rötlich schimmerndem Braun. Man fühlt sich wie in einem begehbaren Topf voll Honig am Ende des Regenbogens. Ich weiß noch, dass ich das so oder so ähnlich dachte, im Frühjahr 2005: Auslandssemester, mein erster Russland-Besuch, wir waren mit dem Nachtzug von Moskau nach Sankt Petersburg gefahren, um das Bernsteinzimmer zu sehen. Andere Gedanken damals: Sto Gramm? Und: Wie hat sich Gerhard Schröder wohl hier gefühlt?

Zwei Jahre zuvor war der deutsche Bundeskanzler in den Katharinenpalast von Zarskoje Selo geladen. Ins Zarendorf südlich von Sankt Petersburg, wo er gemeinsam mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin das „achte Weltwunder“, wahlweise auch „die teuerste Tapete der Welt“ einweihte. Niemand sagte Bromance. Aber alle konnten es sehen.

1979 hatte die Sowjetunion mit der Rekonstruktion des legendären Bernsteinzimmers begonnen, und als in den 90ern das Geld ausging, war die deutsche Ruhrgas AG so nett, mit ein paar deutsch-russischen Freundschaftsmillionen einzuspringen. Das war der Zeitgeist nach der Wende, bis die Zeitenwende kam. Und so durfte Putin damals zur Feier des Tages sagen: „Dieses Meisterwerk ist ein Symbol für die neuen Beziehungen in der Familie unseres großen Europas.“ Der Familienterror sollte spätestens 2008 in Georgien beginnen.

Das Bernsteinzimmer – es ist natürlich mehr als nur ein paar mit fossilem Harz, Mosaiken und Wandspiegeln beklebte Holzplatten. Es ist eine Art Flipperspiel zwischen Preußen und Russen, Sowjets und Nazis. Einige Mitspieler seit 1716: Friedrich Wilhelm I., Peter der Große, Katharina II. und eine Sondereinheit der Wehrmacht, die das Bernsteinzimmer in Kisten packte und nach Königsberg brachte. Seit 1944 gilt es als vermisst. Seitdem läuft auch das Suchspiel.

Die neueste Spur führt nach Sachsen

Man kann sich ja viele andere spannende Suchfragen stellen im Leben: Wo liegt Atlantis? In welchem Regal finde ich Hefewürfel? Gibt es intelligentes Leben in der AfD? Aber selten waren so viele Privatdetektive, Schatzsucher, Hobbyarchäologen, Geheimdienstleute und andere vom Pech verfolgte Glücksritter so vernarrt in einen Auftrag. Entsprechend oft, aber immer nur fast, wurde das Bernsteinzimmer gefunden: in einem thüringischen Silberbergwerk, in ostpreußischen Katakomben, in einem Dorf im Erzgebirge, mehrmals in der Tiefe der Ostsee, eine Spur führte mal nach Los Angeles.

Und neulich erst nach Wilkau-Haßlau, in eine sächsische Kleinstadt, die unter Verdacht geraten war, das Bernsteinzimmer unter einem verfallenen Haus zu bunkern. Ein 94 Jahre alter Mann erinnerte sich, dass dort um 1939 plötzlich eine stabile Holztür und mehrere Schlösser aufgetaucht waren. Die Bernsteinzimmerjäger holten schon die Vorschlaghämmer, der zuständige Bürgermeister jedoch nicht. Einzig der Abriss des Hauses könnte den Zugang zum Bunker ermöglichen, sagte er der Lokalzeitung, und der sei nicht geplant. Also wieder nichts. Vorerst.

Meine Hoffnung ist: Vielleicht taucht das Bernsteinzimmer ja mal bei „Bares für Rares“ auf. Oder vielleicht kann Seymour Hersh eine anonyme Quelle auftreiben, die behauptet, dass die Sprengung von Nord Stream 2 in Wahrheit ein missglückter Bergungsversuch des Bernsteinzimmers war. Oder Gerhard Schröder verrät endlich, warum er damals in Zarskoje Selo und im Glanze von sechs Tonnen Bernstein wie ein Honigkuchenpferd gegrinst hat. Alles wäre spannender als die gängigste Theorie, wonach das Bernsteinzimmer einfach längst verbrannt ist.


In der Kolumne „Ostbesuch“ berichtet Paul Linke alle zwei Wochen aus seinem Zwischenleben in Chemnitz und Umgebung. Sachsen sucks? Von wegen!