Junkies und besorgte Nachbarn am Leopoldplatz: Wer verdrängt hier wen?

Der Leopoldplatz in Wedding sollte mal ein Platz für alle sein, doch er geht unter im Drogensumpf. Jetzt schließen sich die Anwohner zusammen, um endlich etwas zu ändern.

Am Leopoldplatz werden saubere Spritzen an Süchtige verteilt. Rico Zyrannó sammelt die benutzten wieder ein.
Am Leopoldplatz werden saubere Spritzen an Süchtige verteilt. Rico Zyrannó sammelt die benutzten wieder ein.Kate Schultze für die Berliner Zeitung am Wochenende

Der Leopoldplatz ist nur noch schwach erleuchtet von den Lichtern der Stadt, den Laternen, Werbetafeln und Scheinwerfern der vorbeirauschenden Autos. Vorne drängen die Leute eilig zum U-Bahnhof. Sie versuchen, die Rufe der Betrunkenen zu ignorieren und das Elend, das in den Ecken kauert. Niemand will sich hier lang aufhalten, schnell weiter und weg.

Im hinteren Teil des Platzes, zwischen den beiden Kirchen, ist es anders. Hier ist es noch dunkler, und die Gestalten wirken noch finsterer als bei Tageslicht. Sie stehen eng beieinander in einer Baracke gleich neben dem Spielplatz. Nur ab und zu flammt ein Feuerzeug unter einem Löffel auf. Plötzlich durchdringt der grelle Strahl einer Taschenlampe die Finsternis. Verdreckte Gesichter schauen kurz zu den zwei Polizisten in ihrem Auto, dann liegt die Baracke wieder in der Dunkelheit.

Nicht weit von dort sitzen an diesem Abend zwei besorgte Anwohner vor einem Café, die Hände tief vergraben in den dicken Jacken. „Was nehmen die da eigentlich“, fragt Kristina Richter. „Heroin kann es doch nicht sein, das macht doch eher ruhig als aggressiv.“
„Vielleicht Crystal Meth“, erwidert Sven Dittrich, der neben ihr sitzt, „oder Crack?“
„Wie nimmt man denn Crack?“
„Man raucht es, glaub ich“, sagt Dittrich.

Kristina Richter vor ihrem Café am Leopoldplatz.
Kristina Richter vor ihrem Café am Leopoldplatz.Kate Schultze für die Berliner Zeitung am Wochenende

Ein Mann gesellt sich zu den beiden, sie umarmen einander, dann kommt ein Paar, dann noch jemand. Über der kleinen Gruppe leuchtet das Schild des Cafés, „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ steht darauf. Sie gehen rein und setzen sich an schmale Holztische, wo Teelichter in kleinen Gläsern flackern, nach und nach tröpfeln noch weitere Leute herein, leises Gemurmel. Sven Dittrich, der sich in die Mitte gesetzt hat, erhebt die Stimme. „Ich möchte mit euch über das Wort Verdrängung sprechen“, sagt er und schaut in die sieben Gesichter um sich herum.

Für Ende Februar haben sie eine Demonstration geplant. Manche von ihnen wohnen hier im Kiez, andere haben einen Laden am Platz, teilweise trifft beides zu. Sie nennen sich „Wir am Leo“ und sie eint, dass sie die Zustände am Platz nicht mehr hinnehmen wollen: das offene Drücken der Junkies, die Spritzen, die überall herumliegen, die Gewalt, die Diebstähle, den Kot und den Urin in den Hausfluren, die Dealer. Sie haben Forderungen formuliert und einen Brief geschrieben an die Regierende Bürgermeisterin, die Innensenatorin, die Polizeipräsidentin, die Bezirksbürgermeisterin. Sie wollen mehr Polizeipräsenz, vielleicht eine mobile Wache, aber auch einen Druckraum für die Abhängigen. Heute wollen sie noch einmal alles besprechen.

„Verdrängung, dieses Thema wird euch in Zukunft häufiger begegnen“, sagt Dittrich. Darauf sollten sie sich vorbereiten. Schon jetzt hätte jemand bei Social Media geschrieben, endlich habe Verdrängung ein Gesicht. „Aber verdrängen wir, wenn wir fordern, dass alle an dem Platz teilhaben sollen und nicht nur die Abhängigen?“, fragt er.

Sven Dittrich, ein gemütlicher Mann mit freundlichem Gesicht und einem grauen Käppi, auf dem „Trödel Laden Wedding“ steht, ist der Sprecher der Gruppe. Seit 16 Jahren lebt er hier an diesem Platz am nördlichen Rand des Berliner Rings, der größer ist als sechs Fußballfelder. Bei ihm im Trödelladen gleich neben dem Café laufen alle Fäden zusammen. Ihn kennen die meisten hier. Die Anwohner und Ladeninhaber, aber auch die, die keine Wohnung haben, sondern nur noch die Sucht. Sie schätzen ihn, weil er DVDs und anderen Krams vor seinem Laden für einen Euro verkauft. Und weil er nett zu ihnen ist und sie respektiert.

Sven Dittrich, 44, vor seinem Trödelladen am Leopoldplatz.
Sven Dittrich, 44, vor seinem Trödelladen am Leopoldplatz.Kate Schultze für die Berliner Zeitung am Wochenende

Eine Frau aus der Gruppe antwortet ihm: „Es findet doch schon Verdrängung statt“, sagt sie. „Die, die nicht drogensüchtig sind, fühlen sich unsicher und meiden den Platz.“ Eine andere Frau sagt: „Es ist eine Generationenfrage, oder?“ Jüngere Leute störe die Situation weniger, weil das eben Teil einer Großstadt sei. Für die könne es sich wie Verdrängung anfühlen, wenn Anwohner diese Probleme angehen wollen. Menschen mit Kindern würden das eher verstehen. Ein Mann in der Gruppe möchte noch mal über die Forderung nach mehr Polizei sprechen. Eine mobile Wache, das habe man ja am Kotti gesehen, könne irgendwann zur festen Wache werden. „Wollen wir das?“

Zehn Jahre ist es jetzt her, dass über all diese Fragen schon einmal nachgedacht wurde. Immer schon, schon seit seinem Bau Mitte des 19. Jahrhunderts, war der Leopoldplatz ein Elendsplatz. Ein Ziel für die Ziellosen der Gesellschaft. Auch damals gab es Klagen über das „lichtscheue Gesindel“, das sich dort herumtreibe. Und das Image blieb haften, wie ein Fleck, der nicht mehr abzuwaschen war. In den frühen 2000ern wurde das Problem drängender. Bei gutem Wetter trafen sich Hunderte aus der Szene an U‐Bahneingängen und auf Parkbänken. Anwohner beschwerten sich über Lärm, Vermüllung, über die Hunde und die Dealer. Viele fühlten sich bedroht und unsicher. Und als bei einer Kita auch noch Spritzen gefunden wurden, rissen die Beschwerden nicht mehr ab.

2013 entwickelte der Bezirk deswegen ein sogenanntes Handlungskonzept: „Ein Platz für alle“. Jeder sollte hier seinen Ort haben. Für die Kinder gab es den Themen-Spielplatz „Tausend und eine Nacht“, für die Trinker und Drogensüchtigen daneben die Baracke, den sogenannten Aufenthaltsort. Ein Bauwagen wurde aufgestellt, aus dem saubere Spritzen verteilt und Arbeit für Konsumenten angeboten wurde, etwa das Aufsammeln der benutzten Spritzen. Das Konzept schien für ein paar Jahre zu funktionieren. Die Polizei hatte weniger zu tun, die Trinker blieben in ihrem Bereich, die Anwohner arrangierten sich mit dem Kompromiss.

Doch die Drogen sind heute andere, und die Trinker sind weg. Geblieben sind die Crack- und Heroin-Abhängigen. „Und sie sind viel mehr“, sagt Kristina Richter. Es ist der nächste Morgen. In ihrem Café trafen sich am letzten Abend die Anwohner, jetzt wandert langsam das Sonnenlicht über die Holztische. Noch ist wenig los. Durch die Fenster geht der Blick über die Nazarethkirchstraße auf die gleichnamige Kirche, einen massiven Backsteinbau. Auf einer der Treppen zu den Seitentüren sitzen zwei junge Männer mit Kapuzen und kochen ihr Crack auf. „Das passiert täglich“, sagt Richter. Daran hat sie sich schon fast gewöhnt. Bei anderen Dingen fällt ihr das schwerer.

In den Hausfluren am Leopoldplatz suchen Dealer und Süchtige passende Orte für sich.
In den Hausfluren am Leopoldplatz suchen Dealer und Süchtige passende Orte für sich.Kate Schultze für die Berliner Zeitung am Wochenende

Vor kurzem etwa, erzählt sie, sei sie abends aus dem Geschäft genau in dem Moment in die Dunkelheit getreten, als ein Mann mit einer meterlangen Axt an ihr vorbeikam. „Der hat auf einen Mülleimer und dann auf einen Baum geschlagen“, sagt sie. Zum Glück sei eine Streife vorbeigekommen, die habe den Mann gleich mitgenommen.

Auch Richter wohnt hier am Platz. Ihre beiden Söhne müssen auf dem Nachhauseweg von der Schule immer wieder Umwege laufen, weil in der Nähe gerade gedealt wird. Vergangenen Sommer spielte sie mit ihrem jüngeren Sohn auf dem Platz und dachte sich nichts dabei, als er fragte, ob er sich die Schuhe ausziehen könne. Kurz darauf fing er an zu brüllen. In seiner Fußsohle steckte eine benutzte Nadel.

„So richtig schlimm ist es erst seit diesem Sommer nach Corona“, sagt sie. „Das war Kollektivdrücken da drüben.“ In jenem Sommer saßen sie und Sven Dittrich mal wieder vor ihrem Café und schauten auf ihren Leopoldplatz, der schon lange nicht mehr ihrer war. Sie fühlten sich ohnmächtig, von Polizei und Politik alleingelassen. Es entstand die Idee, selbst etwas zu unternehmen. Eine Demo, möglichst laut und bunt. Beim ersten Treffen kamen mehr als vierzig Leute.

Während sie erzählt, schaut Richter immer wieder durch die Fenster zum Platz. Sie zieht die Augenbrauen zusammen, in ihrer Stimme liegt Sorge. Bei der Baracke stehen schon jetzt um die dreißig Personen. Sie tragen zerschlissene Hosen, löchrige Schuhe, tiefe Ränder um die Augen. „Mir tun diese Menschen leid“, sagt Richter. „Hinter jedem steckt sicher eine traurige Geschichte.“

Überall am Leopoldplatz findet man Überreste des Drogenkonsums.
Überall am Leopoldplatz findet man Überreste des Drogenkonsums.Kate Schultze für die Berliner Zeitung am Wochenende

Über den kahlen, teilweise mit Schnee bedeckten Boden hallen Rufe von der Baracke bis zur Kirche. Alle paar Minuten schlurft eine dunkle Gestalt rüber zum grauen Bauwagen, holt sich eine frische Nadel, einen Becher dampfenden Tee, schlurft wieder zurück. 

Auch ein Mann mit dunklem, langem Haar und ausgemergeltem Gesicht hastet über den Platz. In seiner Hand ein Wasserkocher, an seinem grünen Anorak ein „love life“-Button. Er stellt sich als Rico Zyrannó vor und besteht auf den Akzent beim O, es sei sein Künstlername, den richtigen will er nicht verraten. Rico wandelt zwischen den Welten hier am Leopoldplatz. Er nimmt Drogen, schon seit vielen Jahren, aber er arbeitet hier auch als Spritzensammler. Von der Nadel ist er seit ein paar Monaten runter. Wenn er spricht, dann hört man noch ganz leicht das Norddeutsche heraus, ein bisschen klingt er wie Udo Lindenberg.

„Es passieren schlimme Dinge hier“, sagt Rico, „gerade in letzter Zeit.“ Vor ein paar Tagen hat ihm einer eine Flasche über den Kopf gezogen. „Wollte mir nach Sonnenuntergang einen Crack-Stein kaufen, es war ein schlechter Tag“, sagt er. Den Typen, der ihm eine verpasst hat, kennt er vom Gesicht. Der sei auch auf eine Frau losgegangen und noch auf einen anderen, den hätte er richtig zugerichtet. Rico rief zum ersten Mal die Polizei. „Da bin ich eigentlich dagegen, aber das ging zu weit.“

Rico glaubt, die Aggressivität sei eine Nebenwirkung von Crack. „Das ist nicht kompatibel mit Opiaten, Pillen und Alkohol. Kokain ist ein Alleinherrscher“, sagt er. Die Droge Crack besteht aus Kokainsalz und Natron, das zum Beispiel aus Backpulver kommt. Beides wird miteinander vermischt und erhitzt, ehe man es raucht. Was dann passiert? Ricos Augen funkeln: „Man behält den Rauch drinnen und dann kommt's schon, um es in der Sprache des DJ zu sagen: Get physical!“ Er schlägt sich auf die Brust. „Wow, die Gedanken sind weg, total weg, strahlend weißes Licht von innen, man fühlt sich wie Gott. Nur eine Sekunde, aber diese Sekunde ist es den Leuten wert.“

Rico Zyrannó ist selber abhängig und sammelt Spritzen auf dem Leopoldplatz.
Rico Zyrannó ist selber abhängig und sammelt Spritzen auf dem Leopoldplatz.Kate Schultze für die Berliner Zeitung am Wochenende

Durch ganz Deutschland geht gerade eine regelrechte Crackwelle. Bundesweit schlagen Kommunen Alarm. In Berlin haben die Innenstadtbezirke gar schon einen Arbeitskreis Crack gegründet. „Es ist überall mit drin“, sagt Rico. Er kriegt es mit aus Gesprächsfetzen, wenn er in der Bahn die Obdachlosenzeitung verkauft. Oder eben hier am Platz. Vor zwei Jahren sei es noch eine ganz andere Stimmung gewesen, sagt er. Dann kam der Krieg in der Ukraine. „Viele von uns sind traumatisiert, sind aus dem Krieg geflüchtet“, sagt Rico, „die wollen das nicht sehen.“

Auf dem Platz herrscht inzwischen reges Treiben, der Schatten der Bäume ist länger geworden. Auf dem Spielplatz gegenüber der Baracke schaukeln und wippen ein paar Kinder. Auf einer Bank hat einer die Hose runtergelassen und sucht an der Leiste nach einer Vene. Die zwei Gesichter der Großstadt, das Leben und der Sumpf, an wenigen Orten sind sie sich so nah wie hier.

Dass die Anwohner nun eine Demonstration planen, findet Rico gut. „Es muss sich was ändern“, sagt er. Nur was, da ist er sich unsicher. Mehr Polizei, das werde die Konsumenten nur vertreiben, und an einem anderen Platz tauchen sie dann wieder auf. Hat man ja am Zoo gesehen. Gewonnen ist damit nichts. Er muss weiter, Spritzen sammeln, verabschiedet sich und verschwindet im Schatten des Kirchturms.

Ein Behälter für benutzte Spritzen
Ein Behälter für benutzte SpritzenKate Schultze für die Berliner Zeitung am Wochenende

Im Inneren der Neuen Nazarethkirche ist es derweil still. Vom Rauschen der Autos ist hier nichts mehr zu hören. Es ist friedlich. Vielleicht sitzt deswegen Nadya hier auf einem der hölzernen Stühle. In der leeren Halle wirkt die kleine Frau noch ein bisschen verlorener als ohnehin schon. Ihr zartes Gesicht mit den stechend grünen Augen ist halb verdeckt von wildem, dunklem Haar, ihren Mund hält sie hinter einem grauen Schal, sodass ihre dunklen Zähne kaum zu sehen sind. Vor ein paar Minuten hat sie drüben einen Crack-Stein geraucht, aber sie ist schon wieder klar. Sie habe nicht viel Zeit, sagt sie traurig. Eine schlechte Nachricht wegen ihrer Kinder. Doch dann erzählt sie kurz ihre Geschichte. „Ich wurde mit 14 zwangsverheiratet und von meinem Vater nach Syrien geschickt. Ich war bis dahin die Beste in meiner Klasse“, sagt sie. „Irgendwann bin ich da abgehauen und zurück nach Berlin.“ Hier fand sie die Drogen. „Ich will nicht mehr hier sein“, sagt sie. Aber wie sich von diesem Platz lösen? Schwer.

Eigentlich wollte Nadya Anwältin werden. „Aber nicht für alte Menschen, sondern für die Rechte von Kindern“, sagt sie. Sie schreibe viel und Singen sei ihre große Liebe. Und dann, ohne Zögern, fängt Nadya an zu singen. Sie hat Soul in der Stimme, der ganze Raum ist von ihr erfüllt. „Dieser Weg“, singt sie laut, und irgendwie klingt dieser Text diesmal gar nicht kitschig: „Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer. Nicht mit vielen wirst du dir einig sein, doch dieses Leben bietet so viel mehr.“

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