Wieder kam in Berlin ein drogensüchtiger Krimineller auf freien Fuß

Das Krankenhaus des Maßregelvollzugs ist total überbelegt. Weitere Straftäter, die einen Entzug brauchen, dürften freikommen. Wer ist politisch verantwortlich?

Das Krankenhaus des Maßregelvollzugs in Reinickendorf
Das Krankenhaus des Maßregelvollzugs in ReinickendorfJürgen Ritter/imago

Erneut ist ein Krimineller wegen seiner Drogensucht auf freien Fuß gesetzt worden. Der 40-Jährige wurde am 10. Februar auf Beschluss des Berliner Landgerichts entlassen. Nach Angaben von Justizsprecher Martin Kröger war er wegen Handels und Einfuhr von Drogen in nicht geringer Menge sowie Waffenbesitz zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden.

Aufgrund einer Suchtkrankheit sollte er im Krankenhaus des Maßregelvollzugs einen Entzug machen. Dafür kam er aus seinem bisherigen sogenannten Vorweg-Vollzug in eine sogenannte Organisationshaft. Bei dieser Haftform in einem normalen Gefängnis müssen Suchtkranke warten, bis ein Therapieplatz im Maßregelvollzug frei ist. Da aber alle Plätze belegt waren, musste das Gericht ihn auf freien Fuß setzen, denn eine Organisationshaft darf nicht länger als sechs Wochen andauern. Sie war bereits seit mehreren Wochen überzogen.

Nach Angaben des Justizsprechers wird die Strafe für den Mann nicht entfallen. Sobald ein Platz für die Therapie frei wird, werde er diese antreten müssen. Danach müsse er seine Haft verbüßen. Der 40-Jährige sei nicht untergetaucht und seine Adresse bekannt.

Anders verhält es sich in einem anderen Fall, über den Spiegel TV kürzlich berichtete: So entging auch ein hochkriminelles Mitglied des Remmo-Clans der Haft. Er war wegen eines Überfalls auf einen Geldtransporter am Kudamm und weiteren Taten zu insgesamt sieben Jahren verurteilt worden. 2021 hatten er und weitere Täter, verkleidet als Müllmänner, einen Geldtransporter überfallen. Seine tropfende Nase – bedingt durch seine Kokainsucht – überführte ihn. Mit seinem Nasensekret gelangte auch seine DNA an den Pullover des Geldboten.

Die Richter ordneten seine Unterbringung im Maßregelvollzug an, um ihn von seiner Sucht zu kurieren. Danach sollte er die Haft antreten. Weil in der Anstalt aber kein Platz frei war, musste das Landgericht ihn aus der Organisationshaft entlassen. Danach reiste er in die Türkei aus. Ob er zurückkehren wird, um seine Therapie anzutreten, wie sein Anwalt der B.Z. versicherte, wird sich zeigen.

Gesundheitsverwaltung: Der ganze Senat ist in der Pflicht

Berlins Justizsenatorin Lena Kreck (Linke) sprach am Dienstag von einem Phänomen, das sich über Jahre hinweg entwickelt habe. „Die Justiz hat ein starkes Interesse daran, dass es einen funktionierenden Maßregelvollzug gibt“, sagte Kreck auf der Senatspressekonferenz. „Auf der anderen Seite sind ihr die Hände gebunden, weil der Maßregelvollzug nicht in ihrer Verantwortung ist.“ Dieser untersteht der Verwaltung von Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne). Laut ihrer Verwaltung war das Krankenhaus des Maßregelvollzugs mit seinen 541 Betten am 6. Februar mit 600 klinischen Patienten deutlich überbelegt.

Es sei wichtig, die Gesundheitsverwaltung darauf aufmerksam zu machen, dass dieser Missstand einen Grad erreicht habe, bei dem es „einen dringenden Handlungsbedarf gibt“, so Kreck. Ihre Verwaltung habe schon in der letzten Legislatur vier Schreiben an die Gesundheitsverwaltung abgesetzt und in der laufenden Legislatur weitere vier Schreiben. Dies sei auf Bitten des Präsidenten des Kammergerichts und des Präsidenten des Landgerichts erfolgt, die sich mit einer deutlichen Problemanzeige an die Justizverwaltung gewandt hätten.

Gotes Sprecher Hans-Christoph Keller teilt mit, dass die Gesundheitssenatorin bereits Ende November im Gesundheitsausschuss die teils unhaltbare und seit Jahren bekannte Situation im Krankenhaus des Maßregelvollzugs ausführlich dargestellt und betont habe, dass die Herausforderungen gemeinschaftlich durch den gesamten Berliner Senat angegangen werden müssten. „Viele Fragen der Finanzierung, Räumlichkeiten und Immobilien sowie der Personalausstattung hängen miteinander zusammen und sind nicht allein durch die Gesundheitsverwaltung zu beantworten“, so Keller. Strukturell lösbar sei das über viele Jahre entstandene Problem nur mit einer langfristigen Ertüchtigung von Gebäuden, einer Aufstockung von Personal und einer gesetzlichen Reform der wachsenden Zahl von Überstellungen in den Maßregelvollzug.

Seit 1995 hat sich die Zahl in den Entziehungsanstalten verdreifacht

Letzteres ist ein eigenes Problem: Bundesweit ist die Zahl der Straftäter, die in einer Entziehungsanstalt untergebracht sind, in den vergangenen Jahren gestiegen. Waren es 1995 noch knapp 1400 Personen, so hat die Zahl sich 2019 auf 4300 Personen erhöht – Tendenz steigend. „Die Kliniken sind überlastet, und zunehmend sind offenbar auch Personen untergebracht, die in der Entziehungsanstalt gar nicht richtig aufgehoben sind, sondern zum Teil sogar den Therapieverlauf der wirklich behandlungsbedürftigen Personen behindern“, sagt Keller.

Der Paragraf 64 des Strafgesetzbuches schreibt vor, dass Gefangene zeitnah in die Entziehungsanstalt aufzunehmen sind. Auf Bundesebene wird deshalb eine Novellierung des Paragrafen diskutiert, um eine Entlastung des Maßregelvollzugs zu erreichen.

Auch Strafverteidiger wissen, dass es bundesweit einen Engpass bei den Therapieplätzen im Maßregelvollzug gibt und das dazu führen kann, dass ihre Mandanten vorzeitig freikommen. So sind etwa in Baden-Württemberg mehr als 30 Kriminelle aus diesem Grund auf freiem Fuß. Inzwischen gibt es auch in Berlin eine lange Warteliste. Wie der Tagesspiegel berichtet, befinden sich in Berlin derzeit mindestens 15 verurteilte Männer ersatzweise in Organisationshaft. Auch sie können darauf hoffen, angesichts des überfüllten Maßregelvollzugs freizukommen. Denn das Landgericht kann gar nicht anders entscheiden.