Wer hat‘s erfunden? Ein Landwirt natürlich
Und zwar im Jahr 1926. Wie die Grüne Woche anfing und zur wichtigsten Food-Messe der Welt wurde.

Im Publikum kursiert auch diesmal vor allem eine Frage: Für welche Köstlichkeit soll ich mir meinen Hunger aufsparen? Dennoch ist die Internationale Grüne Woche – kurz IGW – nicht bloß ein Freß-Fest. Sie ist eine Berliner Institution, ein echter Wirtschaftsfaktor, und es muss schon das ebenfalls legendäre Münchner Oktoberfest herangezogen werden, um eine Großveranstaltung in Deutschland zu finden, die noch bekannter ist. Vor Corona schmausten sich alljährlich 400.000 Besucher durch die Messehallen am Funkturm und bestaunten die Stände der 1880 Aussteller aus mehr als 70 Ländern.
Alles begann 1926. Und der Grund, warum die Grüne Woche just im Januar stattfindet, ist naheliegend: Landwirte haben im Winter weniger zu tun, deshalb traf sich die Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft immer im Januar zu Wintertagungen in der Hauptstadt. Wobei man bedenken sollte: Berlin war damals auch noch eine Stadt der Landwirtschaft – mit 45.000 Pferden, 25.000 Schweinen, 21.000 Kühen und 500.000 Hühnern und Gänsen. Die fraßen, grunzten und starben damals, den Berliner Hinterhöfen sei Dank, noch zwischen den Restaurants und Revuetheatern der dekadenten Berliner Twenties. Aber ja doch.

Der Berliner Landwirt Hans-Jürgen von Hake, seinerzeit Mitarbeiter im Fremdenverkehrsamt, kam auf die Idee, all das an einem Ort in Berlin zu vereinen. Die Grüne Woche war geboren. Gleich beim ersten Mal kamen 50.000 Besucher. Da bestaunten sie auch das größte Exponat: einen vier Meter hohen, eisenbereiften Universalschlepper mit 100 PS. Ganz schnell wurden es sehr viel mehr Besucher. Bis heute haben sich 34 Millionen Besucher auf die „kulinarische Weltreise der kleinen Leute“ begeben.

Das Hauptziel der Messe war und ist: Die Ernährungsbranche präsentiert sich und ihre Neuheiten. „Es gibt Lebensmittel aus anderen Ländern, die in Deutschland heute weit verbreitet sind und die über die Grüne Woche den Weg zu uns gefunden haben“, sagt Christine Franke, Sprecherin der Messegesellschaft. So wurde die Pizza einer breiten deutschen Öffentlichkeit erst über die Grüne Woche bekannt. Ebenso die Kiwi aus Neuseeland. Das ist die eine Funktion solcher Publikumsmessen.
Berlin hat fünf sogenannte Leitmessen, das sind die jeweils größten ihrer Art weltweit. Eine davon ist die Grüne Woche. Zugegeben, bei anderen wird mehr Geld umgesetzt, etwa auf der InnoTrans, der weltgrößten Messe für Schienenfahrzeuge, bei der regelmäßig Milliardenverträge geschlossen werden. Aber das ist eine Fachmesse fast ohne Öffentlichkeit. „Die Grüne Woche dagegen ist der absolute Publikumsmagnet“, sagt Christine Franke.

Bei dieser Messe ist der größte Andrang mit dem wichtigsten historischen Ereignis der jüngeren deutschen Geschichte verbunden: Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer; drei Monate später bildeten sich lange Autoschlangen mit Trabis, Ladas und Wartburgs unterm Funkturm. Und dann fluteten die Ostdeutschen die Messehallen. So begrüßte die Grüne Woche im Jahr 1990 insgesamt 600.000 Gäste, davon fast 360.000 aus der DDR. Besucherrekord. Aber auch in „normalen“ Jahren ist es mitunter brechend voll: Die Besucher schieben sich dann als zähe Menschenmasse durch die Hallen. Fachleute sprechen von „Bewegung im Rollator-Tempo“.

„Die Grüne Woche ist auch ein klassischer Testmarkt, auf dem die Firmen ein paar Dinge ausprobieren können“, sagt Christine Franke. So bot ein Hersteller mal Joghurts mit unterschiedlich viel Zucker an. „Die Firma wollte probieren, wie weit der Zucker reduziert werden kann und den Leuten schmeckt es trotzdem noch“, sagt sie.
Wenn die Grüne Woche ausfällt, wird es ernst
Auf dieser Ernährungsmesse werden gesellschaftliche Mega-Trends vorweggenommen. Lange bevor Bio hierzulande zum Verkaufsschlager wurde, gab es eine Bio-Halle. Oder Streetfood, der Vegan-Kult oder besonders nachhaltige Produkte – fast alles war bereits vor dem großen Durchbruch bei den Endverbrauchern unterm Funkturm präsent. Noch etwas fällt auf: Die Brandenburg-Halle war schon lange vor dem Trend zu regionalen Lebensmitteln die meistbesuchte Halle.
Die Grüne Woche fand aber nicht immer statt, sie ist damit auch ein Spiegel gesellschaftlicher Krisen. In diesem Januar wird sie zum 88. Mal in 97 Jahren eröffnet. In den Zeiten des NS-Regimes unterstand die Messe dem Propagandaministerium und einer „Blut und Boden“-Ideologie. Erstmals abgesagt wurde sie 1938 wegen der Maul- und Klauenseuche. 1939 gab es sie, danach fiel sie kriegsbedingt aus. Erst 1948 ging es weiter, mit gerade einmal 59 Ausstellern. Damals viel bestaunt: ein 40 Kilogramm schwerer Kürbis. Dann fiel sie 1950 gleich wieder aus, wegen der vielen Bauarbeiten. Typisch Berlin. Aber von da an lief es.
Bis 2020, bis zur Corona-Pandemie. Die erreichte Berlin im März, als die bereits fertig aufgebaute Internationale Tourismus Börse (ITB) kurz vor dem Start abgesagt werden musste. Immerhin: Zwei Monate davor hatte die Grüne Woche noch stattfinden können und sorgte dafür, dass das Jahr für die Messegesellschaft nicht zum Totalverlust wurde. „Statt der üblichen 300 Millionen Euro Jahresumsatz und knapp zwölf Millionen Gewinn rutschte die Messe in die roten Zahlen und musste vom Land Berlin gerettet werden“, sagt Messesprecherin Franke.

Doch Messen sind nicht nur Massenveranstaltungen für die jeweiligen Fans. Es geht auch um das Geld, das die vielen Aussteller und Besucher außerhalb des Messegeländes ausgeben. Es ist eine Binse: Messebesucher sind für jede Stadt sehr wertvoll. Der Verband Deutsche Reisewirtschaft hat errechnet, dass Geschäftsreisende pro Tag 161 Euro ausgeben. Fachpublikum und Privatpersonen lassen direkt auf einer Grünen Woche etwa 50 Millionen Euro, dazu kommt eine dreimal höhere Summe im Umfeld: Geschäftsreisende sorgten vor Corona in Berlin für die Hälfte des Umsatzes der Hotels und Gaststätten. Ganz zu schweigen von Taxis, Mietwagen, Fluggesellschaften und der Bahn.
Nun sind die Corona-Beschränkungen vorbei und die Grüne Woche findet nicht mehr digital statt. In den Messehallen unterm Funkturm kann wieder geschlemmt werden, egal, ob Käsekuchenschnaps aus Bayern, Springbock-Spieße aus Ruanda oder Friedensschinken aus Osnabrück. Wohl bekomm's.
Die Grüne Woche ist ein hochpolitischer Ort
Aber es wird auch debattiert. Die Grüne Woche war und ist ein hochpolitischer Ort. Nicht nur die Fridays-for-Future-Bewegung hat dort nun einen Stand. Seit 2011 protestieren Landwirte mit Traktoren und vor allem großstädtische Aktivisten vom „Wir haben es satt!“-Bündnis. Sie demonstrieren gegen Massentierhaltung und den Antibiotika-Missbrauch im Stall, gegen das Höfesterben, gegen die weitere Industrialisierung der Landwirtschaft. Sie wehren sich dagegen, dass Landwirte schlecht bezahlt werden, obwohl sie doch die wichtigen Lebensmittel produzieren. Sie kämpfen gegen die Preisdiktate des Handels und sie sind dagegen, dass der Acker immer mehr zum Spekulationsobjekt wird. Sie fordern eine Agrarwende, die auch die Folgen des Klimawandels berücksichtigt.
Das ist der Protest draußen auf der Straße, doch auch in den Messehallen wird Politik gemacht: Lobbyisten und Vertreter aller Parteien bedrängen den jeweiligen Agrarminister oder die -ministerin beim Eröffnungsrundgang. Die einen wollen mehr Biolandbau, andere eine Restlaufzeit für Großställe. Cem Özdemir, übernehmen Sie!

Und nicht vergessen: Während in den Hallen bunter Trubel herrscht, wird hinter den Kulissen in den Sitzungssälen verhandelt. Dort treffen sich 200 Minister und Staatssekretäre aus aller Welt. Deshalb wird die Grüne Woche nicht von ungefähr auch „Davos der Agrarwirtschaft“ genannt, in Anlehnung an das alljährliche Weltwirtschaftsforum.
Bei dem vielen Essen, das in den Hallen angeboten wird, geht es also nicht nur um den Geschmack. Essen wird immer politischer. Es geht um Grundsatzfragen: Sind Fleischesser tatsächlich Mörder und Veganer moralisch im Recht? Darf der Staat einfach zu viel Zucker in den Lebensmitteln verbieten? Wollen die Konsumenten lieber teure, aber naturnah produzierte Nahrung oder doch billige Fertigprodukte aus der Chemiefabrik? Die Zukunft der Ernährung gehört inzwischen zu den großen Konfliktfeldern der globalen Ökonomie. Die Fronten sind recht verhärtet und gestritten wird mit fast religiösem Eifer.
Über die Zukunft zu debattieren, das geht auch im Internet, das haben die Grünen Wochen in den Pandemiejahren gezeigt. Doch nun soll die mögliche Zukunft nicht nur diskutiert, sondern auch wieder verkostet werden. So wie 2018, als ab 1. Januar eine EU-Verordnung die Verarbeitung von Insekten in Lebensmitteln regelte und knapp drei Wochen später in den Messehallen erstmals Insektenburger serviert wurden. Auch 2023 wird es einige Neuheiten geben. Die Insekten etwa gibt es diesmal als leckeres Speiseeis, die Schweden locken mit Elch-Burger, ein polnisches Familienunternehmen mit Eichel-Drinks und das Salzwerk Berlin will uns von Salz zum Aufsprühen überzeugen. Mal gucken, wie es mundet.