Keine Schlangen, keine Pannen, wenig Wähler: So lief der Wahlsonntag in Berlin

Zur Wiederholungswahl sollte nun endlich alles ohne Pannen ablaufen. Aber hat Berlin überhaupt noch Lust zu wählen? Eindrücke vom Wahlsonntag.

Ein Wähler in einem Einhorn-Onesie während der Stimmabgabe im Wahllokal 505 in Friedrichshain.
Ein Wähler in einem Einhorn-Onesie während der Stimmabgabe im Wahllokal 505 in Friedrichshain.Benjamin Pritzkuleit

Ganz kurz gab es einen Panikmoment, an dem Anna Blankenhorn dachte: Vielleicht geht auch bei dieser Wahl wieder etwas schief. Gerade hatte sie den Wahlkoffer abgeholt, jetzt ging sie dessen Inhalt durch: Wahlzettel, Gesichtsmasken, drei Flaggen (Berlin, Deutschland, Europa), Namenslisten, Stifte, alles war da.

Doch dann fiel ihr auf, dass im Koffer kein Schloss lag, mit dem man die Urne abschließt. „Die Urne muss doch abgeschlossen sein“, sagt sie. „Das kriegen Wahlhelfer eingeschärft: Wenn ein Mobiltelefon in die Urne fällt, kann man es frühestens 18 Uhr wiederbekommen.“ Die Frau an der Koffer-Ausgabe wurde ganz blass: „Wir haben die Koffer alle so rausgegeben, alle ohne Schlösser.“ Doch nach einigen Schrecksekunden merkten beide: Urnen werden heutzutage mit Kabelbindern verschlossen. Und Kabelbinder: sind da.

Der 12. Februar 2023 ist in jeder Hinsicht ein besonderer Wahltag. Es ist die erste Wahl in Berlin, die mitten im Winter stattfindet, es ist die teuerste (39 Millionen Euro) und die mit den meisten Wahlhelfern. Und es ist eben eine Wiederholungswahl, weil bei der letzten Wahl zu viele Fehler gemacht wurden und es massive organisatorische Probleme gab.

An jenem Sonntag, dem 26. September 2021, hatte zeitgleich zur Wahl der Berlin-Marathon stattgefunden. Wichtige Straßen im Zentrum der Stadt waren für die Läuferinnen und Läufer gesperrt, Tausende Besucher waren an diesem Wochenende in die Hauptstadt gereist. Die Berlinerinnen und Berliner gaben an diesem Tag nicht nur ihre Stimme für die Abgeordnetenhauswahl ab, sondern auch für die Wahlen zu den zwölf Bezirksparlamenten, zum Bundestag und für das Volksbegehren der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Fünf Wahlzettel waren auszufüllen, teils klein bedruckt. Jeder Wähler hatte im Schnitt nicht mehr als drei Minuten dafür Zeit.

Für Anna Blankenhorn im Wahllokal 205 in Kreuzberg ist es bereits das fünfte Mal als Wahlhelferin.
Für Anna Blankenhorn im Wahllokal 205 in Kreuzberg ist es bereits das fünfte Mal als Wahlhelferin.Emmanuele Contini

Erste Wiederholungswahl seit 30 Jahren

Es kam zu groben Pannen. Stimmzettel fehlten oder wurden in großer Eile auf A3-Papiere kopiert, weil nicht schnell genug neue nachgeliefert werden konnten. Teilweise gab es nicht genug Wahlurnen in den Wahllokalen, Bürgerinnen und Bürger mussten stundenlang anstehen, bis sie ihre Stimmen abgeben konnten, sodass manch einer schon im Stehen anfing, seinen Zettel auszufüllen. Noch weit über 18 Uhr hinaus wurden an manchen Orten Wahlzettel eingeworfen – obwohl die ersten Hochrechnungen bereits veröffentlicht worden waren.

Das Berliner Landesverfassungsgericht entschied deswegen im November: Die Wahl muss wiederholt werden. Und zwar komplett. Dies sei „wegen Häufigkeit und Schwere der Wahlfehler erforderlich“. Während die gesamte Republik wieder einmal über die Chaos-Stadt lachte und fassungslos mit den Augen rollte, begannen in Berlin die Vorkehrungen für die erste Wiederholungswahl in Deutschland seit über 30 Jahren.

Rund 42.000 Wahlhelferinnen und Wahlhelfer sind heute dabei – 8000 mehr als beim letzten Mal. Sie wurden umfangreich geschult in Online-Kursen, Seminaren und mit dicken Vorbereitungsmappen. Ganze Bürgerämter wurden geschlossen, damit deren Mitarbeiter bei der Wahl helfen konnten. Gesichert wird die Wahl von rund 1700 Einsatzkräften der Polizei. Heute solle alles „reibungsarm“ verlaufen, wie es der Landeswahlleiter Stephan Bröchler ausdrückt. Denn eine Wahl gänzlich ohne Pannen gebe es nun eben auch nicht.

Alles ist also bereit morgens um halb zehn im Wahllokal 205 an der Skalitzer Straße in Kreuzberg, einem von 2257 Wahllokalen in der Stadt. Ein Mann mit einem kleinen Hund kommt herein, er will wählen. Anna Blankenhorn runzelt die Stirn. „Sind Hunde eigentlich erlaubt?“, fragt die 48-Jährige mehr sich selbst als ihre Wahlhelfer-Kollegen. „Ich schau mal nach.“ Sie öffnet ihr „schlaues Buch“, so nennt sie die Broschüre für Wahlvorstände. Tatsächlich steht dort etwas zu Hunden: Die wahlvorstehende Person übt das Hausrecht aus. Das heißt, sie könne entscheiden, ob sie Hunde im Wahllokal zulasse. Anna Blankenhorn sagt: „So ab jetzt neue Regel: Hunde nur noch in Ausnahmefällen, bitte fragt freundlich, ob es auch ohne Hunde geht.“

Alles deutet darauf hin, dass die Beteiligung an der Wiederholungswahl gering ausfallen wird.
Alles deutet darauf hin, dass die Beteiligung an der Wiederholungswahl gering ausfallen wird.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Schon seit 2006 ist Blankenhorn Wahlhelferin, immer in verschiedenen Berliner Wahllokalen. Irgendwann stellte sie fest, dass man sich als Team anmelden kann, und seit der letzten Wahl 2021 macht sie genau das: Sie arbeitet an der Humboldt-Universität und hat sich mit mehreren Kolleginnen und Kollegen zu einem Team zusammengefunden: zwei Schriftführer, zwei Besitzer, zwei Vorstände und einer, der auf die verschlossene Urne aufpasst. Alle kennen einander, bringen Kaffee mit und eine Kollegin hat sogar gedeckten Apfelkuchen für alle gebacken.

Zusammen haben sie morgens um 7 Uhr überprüft, ob vor dem Wahllokal Parteiwerbung zu sehen ist. Zwei Plakate haben sie selbst entfernt. Blankenhorn weiß noch, als im September 2021 das Chaos losbrach. Sie hatte vorher schon das Gefühl, dass es mit Volksentscheid, Berlin- und Bundestagswahl etwas viel auf einmal  war. „Nach einer Stunde friedlichen Wählens“, sagt Blankenhorn, „fragt plötzlich ein Wähler, warum wir in Kreuzberg eigentlich Wahlzettel aus Charlottenburg ausgeben.“ Die Minuten danach seien hektisch gewesen. „Wir mussten uns von anderen Wahllokalen Wahlzettel besorgen, die glücklicherweise genau so lange hielten, bis der Nachschub kam.“ Ansonsten hatte ihr Team Glück gehabt, das Wahllokal schloss pünktlich um 18 Uhr.

Die Organisation sei dieses Mal auffällig besser gewesen im Vergleich zu früheren Jahren. „Jedes Mal, wenn ich das Wahlamt in Kreuzberg um etwas gebeten habe“, sagt Blankenhorn, „hatte ich nur fünf Minuten später eine Antwort.“ So hatte sich eine Kollegin am Freitag krankgemeldet und schon am Samstagmorgen hatten wir einen Ersatz vom Wahlamt bekommen. Außerdem hatten sie für die Wiederholungswahl erstmals Hilfe beim Aufbauen der fünf Wahlkabinen. „Die sind sehr schwer“, sagt sie, „das war wirklich praktisch.“

Gegen 11 Uhr beginnt es langsam, etwas lebhafter zu werden. Zum ersten Mal müssen sich Menschen anstellen, um einen Wahlzettel zu bekommen. „Das ist immer so“, sagt Anna Blankenhorn, „wenn die Kreuzberger gefrühstückt haben, wird es voll hier.“ Aber bisher gab es keine Besonderheiten, nur ein Mann, der seine Briefwahlunterlagen mitbrachte und sie hier abgeben wollte. „Er muss den Wahlschein zeigen, den Umschlag mit den Stimmzetteln selbst zerreißen – und dann kann er hier noch einmal neu wählen.“

Aus anderen Bezirken hört man gegen Mittag: Es ist ungewöhnlich ruhig. In den meisten Wahllokalen gibt es deutlich mehr Wahlkabinen und -urnen als vor zwei Jahren, alles ist vorbereitet für einen großen Ansturm –doch der bleibt bislang aus. Im Wahllokal 415 in der Hedwig-Dohm-Oberschule in Mitte etwa teilt der Wahlvorstand um 11.40 Uhr mit, von 600 wahlberechtigten Personen hätten bislang nur 110 ihre Stimme abgegeben. Im Wahllokal 110 in der Papageno-Schule stürzen sich die Wahlhelfer förmlich auf jeden, der den Raum betritt. Und auch im Wahllokal Nr. 125 am Nordhafen, wo es bei der vergangenen Pannen-Wahl zu langen Warteschlangen gekommen war, haben bisher nur 170 von mehr als 1200 Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben.

Der Wahlvorsteher dort heißt Marko Giebel. Er sagt: „Heute passiert nicht mehr viel, die Leute sind einfach verdrossen, und der große Ansturm wird ausbleiben.“ Währenddessen stehen sich die Wahlhelfer im Wahllokal die Beine in den Bauch, einige hat Giebel bereits in die Pause geschickt. „Wir sind dieses Jahr einfach viel zu viele. Die Hälfte hätte auch gereicht“, sagt er.

Wiederholungswahl in Berlin: Eine Frau wirft ihren Stimmzettel in die Wahlurne.
Wiederholungswahl in Berlin: Eine Frau wirft ihren Stimmzettel in die Wahlurne.Emmanuele Contini

Gegen 16 Uhr ist am Sonntag für das Wahllokal 205 in der Refik-Veseli-Schule die Wahlbeteiligung noch immer nicht gestiegen. Noch zwei Stunden, bis das Team um Anna Blankenhorn mit der Auszählung beginnt. Es war ein ruhiger Wahltag, niemand ist laut geworden, keiner hat das Wahlgeheimnis aus Versehen verraten und politische Diskussionen blieben aus. „Nur eine Frau, um die 50, fiel etwas auf“, sagt Blankenhorn. Sie blieb 25 Minuten in der Wahlkabine, sie konnte sich offenbar nicht entscheiden, wen sie wählen soll. Dabei hatte sie nur einen Stimmzettel, für die BVV. „Im schlauen Buch steht für solche Fälle nichts“, sagt die Wahlvorsteherin. „Also haben wir sie gelassen.“

Am Abend zeichnet sich ab, dass diese Wahl ohne größere Pannen verlaufen ist. Und dass die Wahlbeteiligung eine der schlechtesten in der Geschichte der Stadt war. Berlin kann Wahlen, könnte man sagen. Berlin hatte nur keine Lust mehr zu wählen. (Mitarbeit: Sophie-Marie Schulz)