Wikipedia-Nutzer aus Berlin: Wie Berliner Kiezgeschichte bei Wikipedia erzählt wird
Bei Detlef Emmrich aus Friedenau stehen mehr als 2900 aktive Tage in der Statistik. Sein Ehrenamt wird täglich neu vermessen. Emmrich, kurze graue Haare, schlank und 62 Jahre alt, ist so etwas wie ein Chronist 2.0. Ein Berliner Wikipedianer, der seinen Teil zur Kiezgeschichte beiträgt und dann das Notebook wieder zuklappt.
Ohne Sicherheitskopie oder vollgeschriebene Ordner. Er sitzt auf einem grün gepolsterten Hocker, nur das Tablet auf dem Schoß. Er vertraut der Cloud und dem Schwarm, seit das Online-Lexikon Wikipedia vor gut zehn Jahren den Durchbruch in Deutschland schaffte und Nutzerzahlen dermaßen in die Höhe schnellten, dass es nicht mehr weit war zur Millionenmarke bei den Verfassern von Artikeln.
„Wenn sich jeder an Wikipedia beteiligt, ist das etwas Vollkommenes und sehr aktuell“, sagt Emmrich. Diese Vision ist es, die ihn fasziniert. Die letzte gedruckte Enzyklopädie hat er sich vor 15 Jahren gekauft. „Bei Redaktionsschluss schon veraltet.“ Er ruft seine Wikipedia-Benutzerseite auf, zeigt Listen, Profile und Versionen. Jeder Nutzer kann Leser, Schreiber, Korrektor und Diskutant zugleich sein. Mitarbeit unbezahlt, Nutzung kostenlos.
Ein Prinzip, das mittlerweile bekannt ist und manchen bis heute doch seltsam erscheint. Chronik, Lexikon und Erklärbär für alles, so ganz ohne letzte Instanz? Wenn Leute von Emmrichs Hobby erfahren, fragen sie, wie das geht und was er genau macht. Tatsächlich wirkt es immer noch exotisch.
Straßen aller 96 Ortsteile - in wenigen Jahren erfasst
Emmrich, nach 45 Arbeitsjahren bei der Bundesdruckerei und seit kurzem im Vorruhestand, hat ein Faible für Berliner Straßen und Plätze. Besonders liebt er Friedenau. Beides in Kombination wollte er festhalten, frei einsehbar für jeden. Er arbeitete eine erste Übersicht aus und veröffentlichte sie 2010 unter dem User-Namen Emmridet auf der Wikipedia-Seite "Straßen und Plätze in Berlin", hübsch sortiert, von A bis Z mit Hintergründen zu Namen, Maßen, teils mit Fotos.
Es dauerte eine Stunde. Dann schrieb jemand neue Details dazu. „Als ich damit anfing, dachte ich, für alle 95 – jetzt 96 – Ortsteile in Berlin wird das sicher eine Lebensaufgabe.“ Er täuschte sich gewaltig. Jetzt, fünfeinhalb Jahre später, steht auf der Übersichtsseite zum Projekt: „Der Endspurt läuft.“
Rund 20 Wikipedianer haben sich seitdem an dem Projekt beteiligt, erzählt Emmrich, manche oft, andere gelegentlich. Vier Leute sind der feste Kern. Alle (mittlerweile) Ruheständler. Einmal im Jahr treffen sie sich auch im echten Leben.
Ob zu Charlottenburg, Neu-Hohenschönhausen oder Dahlem - hier und da fehlt noch was, die verbleibenden Aufgaben werden verteilt. Was sie aus Adressbüchern, Grundrissen, Büchern, alten Stadtplänen und Ortsbegehungen zusammengetragen haben, liegt nun auf den Servern. Das neue Kapitel ihrer Arbeit heißt fortlaufende Aktualisierung. Jeder kann es verändern, einfach so.
Angst, dass etwas verloren geht? Nein, sagt Emmrich. „Jeder darf auch schreiben, was er will.“ Müsse sich aber davon überzeugen, dass es stimmt. Und Belege beibringen. Die gute Absicht ist das Prinzip, die gegenseitige Kontrolle das Korrektiv. Dafür gibt es Diskussionsseiten, Fristen bei Löschanträgen, Abstimmungen und für gute Arbeit kann man sich gar gegenseitig einen Orden verleihen.
Der Berlin-Irrtum "Stalins Badezimmer"
Ein Sichter-System aus Freiwilligen sorgt außerdem für Korrekturen. Jeder kann nach einer gewissen Zeit so ein Wächter werden. Emmrich hat den Status seit Jahren, er sitzt oft abends noch zwei Stunden auf dem Sofa und klickt sich durch eine Liste von Artikeln, die er kontrolliert.
Jede Änderung wird ihm mit einer Push-Nachricht mitgeteilt. Er schaut nach, vergleicht die Versionen, prüft sie grob auf Plausibilität. So wie es bei Wikipedia orgesehen ist. Das Risiko für Fehler ist gering, glaubt Emmrich, aber vorhanden. Liegt in der Natur der Sache.
Er weiß, wovon er spricht. Als ein verfälschter Eintrag zur Karl-Marx-Allee für Furore sorgte, war das auch mit ihm verbunden. Eines Abends im März 2011 kommt die Meldung, ein anonymer Benutzer wolle die DDR-Mundart „Stalins Badezimmer“ aus dem Artikel streichen. Eine Formulierung immerhin, die auch in Zeitungen stand. Dachte sich Emmrich, gebürtig aus dem Westteil der Stadt.
Noch am selben Tag um 21.13 Uhr - das zeigt die Dokumentation von Wikipedia - lehnte er die Änderung ab. Klick. "Stalins Badezimmer" blieb zunächst, wo es war, im ersten Absatz. Wie sich herausstellte, war die angebliche Redensart - übrigens eine Rotweinselige Erfindung unseres Polizeireporters - völliger Unfug, der Eintrag schon zwei Jahre alt und ausgehend von dem falschen Wikipedia-Artikel erst von Medien verbreitet worden. Der Schwarm stand da schon lange auf dem Schlauch. Und Emmrich wurde ein Teil davon. Heute sagte er schmunzelnd: „Asche auf mein Haupt.“