Tränenreiche Ausstellungseröffnung im Regierungsviertel: Die Hemden der Ukraine
Eine Kunstinstallation im „Parlament der Bäume“ im Regierungsviertel gedenkt mit der Ausstellung dem traditionellen bestickten Hemd der Ukraine: „Wyschywanka“.

Wer heute am Parlament der Bäume vorbeigeht, kann sich aus dem Augenwinkel einen außergewöhnlichen Anblick verschaffen: An vielen der Bäume im Garten hängen Hemden. Bei näherer Betrachtung wird klar, dass jedes Hemd ein unterschiedliches, oft komplexes Muster trägt; es sind verschiedene Farben und Motive zu sehen. Aber ganz normale Hemden sind es nicht. Sie sind aus bemaltem Holz, hängen flach und steif von den Bäumen. Einige sind nicht bemalt, sondern Spiegel, die in Form eines Hemdes geschnitten sind.
Seit Montagabend bilden 19 solche Hemden eine neue Kunstinstallation auf dem einstigen Todesstreifen der Berliner Mauer. Sie heißt einfach „Wyschywanka“ – denn das ist der Name dieses traditionellen bestickten Hemds aus der Ukraine. Bis zum 17. Juli werden sie im Parlament der Bäume hängen; jedes wurde individuell von einer ukrainischen Künstlerin bemalt, die nach Berlin geflüchtet ist. Die Ausstellung handelt von ihren persönlichen Geschichten, ihrer Herkunft und ihren Emotionen rund um den russischen Angriffskrieg gegen ihr Heimatland geprägt.
In Kriegszeiten bietet die Wyschywanka für viele Geflüchtete aus der Ukraine eine Verbindung zu ihrer Heimat und ihren Liebsten. Aber schon davor war sie ein wichtiges Nationalsymbol; jede Region hat ihre eigenen Farben und Muster für die Bestickung; Wyschywankas werden oft zu Erbstücken, die mit besonderen Merkmalen aus der Tradition der Familie oder des Dorfes geschmückt sind. Gleichzeitig gelten sie als Talisman und Symbol der ukrainischen Folklore. Die Emotionen, die jetzt damit verbunden sind, wurden bei der Eröffnung der Installation deutlich, als die Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) mit den einzelnen Künstlerinnen – die aus allen Regionen der Ukraine stammen und deren Altersspanne mehrere Jahrzehnte umfasst – einen Rundgang durch den Garten machte.

Mit dabei war Olena Kishkurno, eine 46-jährige Malerin aus Charkiw im Osten der Ukraine, die seit März in Berlin lebt. Wie viele andere in der Installation, erzählt ihre Wyschywanka von ihrem Schmerz und ihren Ängsten während des Krieges sowie von der Kraft, die ihr die Traditionen aus der Ukraine jetzt geben. Ihr kommen die Tränen, als sie erzählt, wie sie ihre Wyschywanka als Hommage an ihren Bruder Wladimir gemalt hat: Er ist gerade in einem Kiewer Vorort mit der ukrainischen Armee stationiert. Roth nimmt sie in den Arm und drückt sie fest.
Roth: Die ukrainische Kultur ist stärker als dieser Krieg
„Ich glaube sehr an Zeichen und Symbole“, erzählte Kishkurno später der Berliner Zeitung. Für ihre Wyschywanka wählte sie rote und schwarze Farben, die eher für Hemden aus der Westukraine typisch sind. Für sie symbolisieren sie aber eine nüchterne Stärke. Blumen oder Bäume, die für die Region Charkiw typisch wären, sind auf ihrer Wyschywanka nicht zu sehen, stattdessen ein eckiges Muster. Dieses soll an die Panzersperren erinnern, die jetzt die Straßen überall in der Ukraine säumen. „Das ist für mich ein Symbol des Schutzes, den ich mir so sehr für meinen Bruder wünsche“, sagt Kishkurno.
Das Hemd repräsentiert für sie auch die Wünsche und Träume, die der Krieg jetzt bedroht: Vor allem, dass ihr Bruder gesund und munter bleibt und dass sie ihm eine echte Version des Hemdes als Talisman schenken könnte. „Ich habe an ihn die ganze Zeit gedacht, als ich gemalt habe“, sagt sie. „So habe ich meine Liebe, meine Verbindung zu ihm und auch zur Ukraine in diese Wyschywanka eingepflegt.“

Staatsministerin Roth wurde von den vielen Emotionen der Ausstellung nicht kaltgelassen; Die ganze Installation sei „voller Kraft“, sagt sie. Sie bedankte sich bei ihnen, dass sie Berlin mit der Installation so viel „Kreativität und Offenheit“ schenken. „Sie zeigen, dass dieser Krieg gegen Ihre Kultur nie gewinnen wird, weil sie so viel stärker ist.“
Malen war „fast wie eine Art Therapie“ für die Künstlerinnen
Für die Initiatorinnen der Ausstellung, die Künstlerinnen Maria und Natalia Petschatnikov, sei es das Ziel des Projekts gewesen, Verbindungen und gegenseitige Unterstützung durch die Kunst zu schaffen. Seit fast zwei Monaten treffen sich die Schwestern mehrmals in der Woche mit einer Gruppe von geflüchteten Ukrainerinnen und ihren Kindern im Besucherzentrum der Stiftung Berliner Mauer. Sie sprechen über Kunst und schaffen auch eigene Kunstwerke. Das soll die Frauen ablenken – Maria Petschatnikov nennt es „fast wie eine Art Therapie“.
Die Künstlerinnen wollen auch, dass die Installation Fragen bei den Besuchern aufwirft: „Man sieht diese Hemden hier hängen, aber wem gehören sie? Wo sind diese Menschen, was sind ihre Geschichten?“, so Maria. Auch die Hemdenspiegel sollten Anlass zum Nachdenken geben: Dadurch werde symbolisiert, dass der Krieg nicht nur die Ukraine prägt, sondern auch Einfluss auf Berlin und die Berliner hat, sagt Natalia.
Ihr persönliches Verhältnis zu der Wyschywanka ist auch davon geprägt, dass die Zwillingsschwestern eigentlich selbst Russinnen sind, die im heutigen Sankt Petersburg geboren wurden. Es kam aber beim Entstehungsprozess der Hemden trotzdem nie zu Konflikten zwischen den Frauen, sagen sie: Tatsächlich sei aus dem Projekt eine große Gemeinschaft für die Frauen gewachsen, sagt Natalia Petschatnikov. „Das gibt uns allen Halt in diesen sehr schmerzhaften Zeiten“, erklärt sie. „Diese Gruppe hat noch viel Potenzial, glaube ich – wir können zusammen noch viel Wunderbares schaffen.“