Berlin: Wie ich mein Auto verschrottete und zum ersten Carsharing-Nutzer wurde
„StattAuto“ aus Kreuzberg war der erste deutsche Carsharer. Anfangs Kommune, dann Aktiengesellschaft. Eine Geschichte vom Scheitern und Siegen als Öko-Pionier.

Berlin-Berlin autofrei? Das schreckt mich nicht. Seit 27 Jahren geht es nun schon ohne. Zum Abgewöhnen von der Droge Autobesitz vertraute ich mich seinerzeit StattAuto an, dem ersten deutschen Carsharing-Anbieter überhaupt. Es wurde eine anstrengende Beziehung voller Idealismus, Pleiten und Tausenden Westmark Scheidungsverlusten.
Heute käme ich mit den zwölf Autofahrten, die die Initiative „Autofreie Stadt“ pro Person und Jahr zugestehen will, gut zurecht. Ich habe Bahncard, VBB-Abo, mittlerweile eine gute Orientierung bei der Nutzung der Öffentlichen einschließlich Busverbindungen über Land und Anrufbussen.
Mein letztes eigenes Auto war ein Wartburg 1.3, Baujahr 1988, einer der ersten, der im volkseigenen Eisenacher Werk mit einem Viertaktmotor von Volkswagen gebaut worden war. Im Herbst 1989 verwandelte sich der ockerfarbene Kasten zum Schrottkandidaten – jetzt bevorzugten die Ex-DDRler Original-Schrottautos aus dem Westen.
Ich hielt dem Wartburg die Treue, bis zu einem verregneten Oktobertag 1995. Ich hatte das Auto drei, vier Wochen nicht gebraucht und vergessen, wo es stand. Mit dem Fahrrad kurvte ich suchend durch Friedrichshain. In diesen 20 Minuten reifte der Entschluss: Das Auto wird abgeschafft. Ich brauche keins. Ein junger Mann aus Sachsen-Anhalt kaufte das DDR-Gedächtnisstück für 500 Mark.
Avantgarde des Carsharings: Wie alles begann
Am 3. November 1995 trat ich StattAuto bei, Mitgliedsnummer 03935. Zu jener Zeit liebte der Durchschnittsdeutsche nichts mehr als sein Privatauto, und ich entsprach laut Statistik dem Durchschnitt jener seltsamen Leute, die sich aufs Autoteilen einließen: Ende 30, studiert, gutes Einkommen. Auto nutzen statt besitzen – eine hervorragende Idee, fand ich. Ich wurde zum Pionier des Carsharings. Ein StattAuto sollte sechs Privatwagen ersetzen und dem Klima rund zehn Tonnen Kohlendioxid ersparen. Fast zehn Jahre teilte ich mein Leben mit StattAuto.
Zwei alte Opel Kadett Kombi und ein Anrufbeantworter bildeten im Juni 1988 die Startausstattung einer Initiative, die zunächst noch Stadtauto hieß. Der Anrufbeantworter stand im Schlafzimmer von Markus Petersen, dem Gründer, sein Bruder Carsten kam 1990 hinzu. „Das war alles, was wir brauchten, um ein neues Verhältnis zum Auto in Deutschland einzuführen“, sagte der Gründer am zehnten Geburtstag: „Erinnert sich noch jemand an den irrsinnigen Umstand, damals ein Auto zu buchen? Zuerst musste man ja alle vorhandenen Buchungen vom Band abhören …“ Die ersten Kunden der kleinen Agentur am Paul-Lincke-Ufer waren Kreuzberger Nachbarn, ungefähr 50 Leute, aber es wurden mehr – vor allem nach der Wiedervereinigung Berlins stieg die Zahl klar an. 1991 wandelte sich der Trupp zur GmbH.
Bitte Kapitaleinlage
Neben Enthusiasmus war Geld mitzubringen: Fahrgemeinschaften, in meinem Fall zwei Leute, hatten 1950 DM Kapitaleinlage zu hinterlegen, rückzahlbar bei Austritt. Einzelpersonen zahlten 1300 DM, mit Verzinsung von 3,5 Prozent pro Jahr. Dazu eine einmalige Verwaltungsgebühr von 200 DM und ein Monatsbeitrag von 20 DM. Das von mir meistgenutzte Auto, der Opel Astra Combi, kostete acht Mark je Stunde tagsüber, bzw. fünf Mark Nachtpauschale, der komplette Tag 49, eine ganze Woche 295 Mark, jeder Kilometer unter der 500er-Grenze kam 30 Pfennig einschließlich Benzin.
Die Nutzung verlangte hohe Toleranz: Meistens übergaben die Vornutzer ihren Dreck mit dem Auto, das telefonische Buchen nervte, oft gab es nur Autos an Stationen weit weg vom Wohnort, am Wochenende auch mal gar keine. Kamen die Vorbenutzer zu spät zur Abgabe, stand man dumm da. Das alles spielte ja im Vorinternet- und Handy-Zeitalter! Nie wusste man, wie viel Sprit im Tank sein würde. Schlüssel und Autopapiere lagen in Tresoren, meist in einer Wand eingemauert.
Die Illusion von der guten Kommune
Umständlich und vor allem: Die Hoffnung, das kommuneartige Wirtschaften könne auf freundschaftlich-familiärer Basis funktionieren, erwies sich als Illusion. Wie in einer WG putzten die einen und die anderen nicht. Irgendein Groll beschäftigte einen immer. Nach dem Niedergang der DDR lehrte diese StattAuto-Erfahrung: Sozialismus scheitert an den Menschen.
Einmal jährlich kam „ShareWell“, die Zeitung für Nutzer und Freunde. Die vom 20. Oktober 1998 teilte mit, dass der StattAuto Verein Berlin mit seinem Hamburg Pendant zur StattAuto AG fusioniere. AG heißt Aktiengesellschaft. Man wolle Kosten reduzieren, mehr Wachstum generieren, neue Stationen einrichten. Der Alltagsärger lauerte in den Kurzmitteilungen: Sanktion für Verspätungen von mehr 15 Minuten künftig 60 DM Strafgebühr, Wiederholungstätern drohte der Rauswurf. Neu war eine Schneekettenausleihe und eine Anleitung für Automatik-Neulinge.
Das nächste Blättchen vom 1. Juni 1999 informierte über die Umbenennung: Die Gesellschaft heiße künftig Drive – das klang energischer und internationaler. Jetzt wollte der Vorstand bundes-, ja europaweit auftreten. StattAuto erinnere zu sehr an den Ursprung aus der Alternativbewegung der 80er-Jahre – an ein Angebot aus der Nische.
Einzug des Kapitalismus
Das stand im neu gestylten Blättchen, das nun ebenfalls Drive hieß. Die neue Vorstandsstrategie: Man ziele auf Dienstleistung ab und nicht mehr auf ökologische Innovation (die Komponente werde natürlich nicht vergessen!). Zitat: „Es kommt uns mehr auf die ökologische Wirkung als auf das ökologische Bewusstsein an.“ Das klang schon deutlich nach Kapitalismus.
Die erstmals ausgegebenen Aktien zur Kapitalerhöhung sollten nur Mitglieder und Mitarbeiter erwerben können, für sechs Mark. In Aussicht gestellt wurde zudem eine Software, die endlich, endlich das Buchen per Internet erlauben sollte. Das lästige Schreiben von Fahrtberichten entfiele. Neue Mitarbeiter sollten dem Fuhrpark auf dem Weg zur Professionalisierung „regelmäßige Betreuung“ zukommen lassen – das betraf den technischen Zustand, aber „vor allem die Sauberkeit der Fahrzeuge“. Man lernte!
Emotion und mächtige Impulse
Zum Klassiker Opel Corsa und Astra kamen neu in die Flotte Spaßmobile wie Cabrios oder zweisitzige Roadster. Die Sache mit der Ökologie war definitiv in den Hintergrund gerutscht. Einer der Texte, die den neuen Ton setzten, begann so: „Ein neuer Begriff macht die Runde ‚Emotions-Auto‘.“ Gemeint waren Smart und VW New Beetle2 – Autos zum Liebhaben. Die nächste neue Idee hieß: Cash Car. Drive würde Autos vermitteln, die von ihren Besitzern zeitweilig nicht gebraucht und zum Verleih freigegeben würden.
Der nächste Newsletter vom 3. Juli 1999 quoll von Erfolgsmeldungen über: Das Unternehmen wachse, von „mächtigen Impulsen“ war die Rede. Die Aktiengesellschaft mache Kundinnen und Kunden zu Eigentümern. Der Ausgabekurs der zweiten Aktienrunde sei angesichts des Wachstumspotenzials mit neun Mark „günstig“ behauptete Petersen im Editorial. Erst mit der dritten Aktienausgabe von elf Mark werde man in die Öffentlichkeit gehen. Carsten Petersen war gerade von der Zeitschrift Capital und der Naturschutzorganisation WWF zum Öko-Manager des Jahres gewählt worden.
Wie in einer WG putzten die einen und die anderen nicht. Nach dem Niedergang der DDR lehrte diese StattAuto-Erfahrung: Sozialismus scheitert an den Menschen.
Zugleich blieb der menschliche Faktor ein Problem, wie man im Drive-Magazin vom 15. April 2000 lesen kann: „Bitte tanken Sie die vom Hersteller empfohlene Kraftstoffsorte.“ Oder ein Sorry für Totalausfälle: „Viele Anrufer sind in Telefonwarteschleifen verhungert.“ Carsten Petersen lobte seinen Laden: „Die Vermietung gestaltet sich unbürokratisch. Über ein rund um die Uhr erreichbares Callcenter bucht der Kunde den Wagen seiner Wahl. Elf verschiedene Typen in sechs Kategorien stehen zur Verfügung.“
Eigenkapital verzehrt
Und ich kaufte – noch immer im Hochgefühl meiner edlen Öko-Gesinnung und taub für die Warnsignale, die aus den überschwänglichen Erfolgsbeschwörungen herausklangen, Aktien – 125 Stück à neun Mark, summa summarum 1120 Mark: Gutes Geld dem schlechten hinterhergeworfen. Denn ab jetzt hagelte es Katastrophenmeldungen. Markus Petersen, der Gründer, schickte am 25. Oktober 2000 einen Brief, der mit dem Satz begannen: „Der Anlass dieses Schreibens ist ein trauriger. Massive und fortgesetzte Verluste aus den Jahren 1998 bis heute haben das Eigenkapital von StattAuto verzehrt und bedrohen akut ihren Fortbestand als Firma.“
Es folgte eine lange Erklärung, wie es so weit kommen konnte. „Wir wollten eine große und normale Firma werden.“ Nun sei unbestreitbar: „Die Entwicklung von StattAuto als Aktiengesellschaft ist eine der Selbstüberschätzung und schwerer handwerklicher Managementfehler.“ Es gebe genug Kunden, und die Idee vom Autoteilen funktioniere, aber man habe nichts von der „galoppierenden Kostenentwicklung“ gewusst. Er spricht von „schrecklicher Unordnung“, es habe „faktisch keine Buchhaltung und kein professionelles Fuhrparkmanagement“ gegeben, auch keine Marketingstrategie.
Kapitaleinlage futsch
Die Geschäftsführer wurden rausgeworfen, die gröbsten Fehler abgestellt. Und doch: „Wir finden uns in einem Scherbenhaufen wieder“, heißt es in dem Brief. Die Möglichkeiten: Insolvenz oder Rettung durch Kunden, Aktionäre und Mitarbeiter. Und dann die persönliche Bitte: „Sie haben uns als Mitglied eine Einlage von 1950 DM als Kredit gegeben. Bitte verzichten Sie ganz oder teilweise darauf und kündigen Sie nicht.“ Ich habe verzichtet. Mein Opfer für die gute Sache. Ich wollte die Idee des Carsharings am Leben erhalten.
Doch es kam schlimmer. Es folgten Sanierungskonzepte, „Aufwind“-Meldungen, der 1,9-Millionen-Verlust von 2000 war im Folgejahr angeblich auf eine Million reduziert, aber 2002 blieben die Zahlen rot. Am 27. März 2004 habe ich kapituliert und die Aktien zu 40 Cent pro Stück verkauft: an die niederländische Carsharing-Firma Greenwheels, die StattAuto im Jahr darauf vollends übernahm und damit den Namen StattAuto. Die Liebe war längst erkaltet. Meine letzte „Mobilitätsrechnung“ datiert vom September 2002. Die Meldungen über weitere finanzielle Turbulenzen durfte ich ignorieren.
Mein Tribut an die ökologische Marktwirtschaft war bezahlt. Unbezahlbar geblieben sind die gesundheitlichen Konsequenzen: Die Entwöhnung von der süßen Droge Auto führte in die nachhaltige Liebe zum Fahrrad. Radeln sommers wie winters. Ab minus vier Grad kommen beheizbare Handschuhe zum Einsatz. Einzige Hindernisse: hoher Neuschnee oder Glatteis.
Die Dokumente meiner StattAuto-Affäre ruhten jahrelang in einem grauen Ordner. Jetzt ist das Technikmuseum daran interessiert. Deutschlandweit nutzen heute 1,3 Millionen Autofahrer das Carsharing – tatsächlich einfach, kostengünstig. Kleine Vereine, Genossenschaften, Mittelständler, große internationale Konzerne bieten an 935 Stationen Fahrzeuge an. In Berlin kann man sie überall abstellen und per App finden. Es funktioniert. Die Idee war eben doch gut.
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