Zivilcourage: Wenn Hilferufe nicht beachtet werden, was bleibt dann noch?

Wenn jemand um Hilfe ruft, dann wird ihm geholfen. Davon würde man zumindest ausgehen. Unsere Autorin wurde überfallen. Geholfen wurde ihr nicht.

Vor allem nachts, beschleicht einen manchmal ein ungutes Gefühl.
Vor allem nachts, beschleicht einen manchmal ein ungutes Gefühl.Michael Gstettenbauer/IMAGO

Fahndung nach brutalem Raub. Überfall mit Handgranate. Räuber drohen Opfer mit Elektroschocker – Schlagzeilen der vergangenen sieben Tage.

In Berlin fühlt man sich nicht immer und überall sicher. Vor allem nachts, beschleicht einen manchmal ein ungutes Gefühl. Und trotzdem springt man über seinen eigenen Schatten, blendet das ungute Gefühl aus und läuft die dunkle Gasse schnell nach unten. Vorbei an den schwarzen Hinterhöfen und spärlich beleuchteten Häusereingängen. Die Unsicherheit wird verdrängt und die Hoffnung darauf, dass schon nichts passiert, gibt einem Auftrieb. Diese Strategie geht aber leider nicht immer auf. Und es ist ganz egal, ob man eine Straße in Berlin, München oder Dresden entlangläuft.

Schritt für Schritt kommt er näher

Die Sonne geht gerade unter. Ich stehe am Ufer der Elbe und betrachte den Horizont. Das Dach der Frauenkirche verschmilzt mit dem Blau des Himmels. Die Kuppel der Kunsthochschule, direkt daneben, wird eins mit dem leuchtenden Gelb der Sonne. Es ist Ende Mai. Ich nehme noch einen tiefen Atemzug, lasse die Farben des Himmels auf mich wirken und drehe mich Richtung Zwinger. Es sind nur wenige Minuten zu Fuß von der Elbe bis zu meiner Wohnung.

Trotzdem fahre ich eine Haltestelle mit der Tram und steige beim nächsten Halt aus. Einige Menschen sind noch unterwegs. Ich bleibe stehen und suche nach meinen Kopfhörern - kurz darauf dröhnt „Confirmation“ von Westerman in meinen Ohren. Ich laufe los und konzentriere mich ganz auf die Musik. Die Schritte hinter mir nehme ich nicht wahr. Merke nicht, dass mich jemand beobachtet. Das jemand seine Hände nach mir ausstreckt und Schritt für Schritt näherkommt.

Dann werde ich aus meiner Welt gerissen

Die Wahrscheinlichkeit in Deutschland Opfer eines Straßenraubs zu werden ist sehr gering. So etwas passiert einigen Wenigen – den Unvorsichtigen. Das sagte ich jedes Mal meinen Eltern, wenn sie mich auf die potenziellen Gefahren während meiner nächtlichen Spaziergänge aufmerksam machten. Eltern sorgen sich nun mal, das verstehe ich. Aber in Dresden passiert so etwas nicht und mir schon gar nicht. Selbst nachts sind Passanten auf den Straßen unterwegs und könnten helfen, sollte es jemals dazu kommen.

Mittlerweile ist es dunkel geworden. Der Mond hat mit der Sonne getauscht. Ich lausche der Musik in meinen Ohren. Westerman singt: „Confirmation’s easier when you don’t think so much about it …“. Und dann werde ich aus meiner Welt gerissen. Starke Hände packen mich an meinen Schultern. Ich spüre einen Atem an meinem linken Ohr und werde herumgerissen.

Irgendwie gelingt es mir, mich von meinen Kopfhörern zu befreien. Währenddessen hat der Fremde meine Tasche zu fassen bekommen. Wie ein Verrückter reißt er an ihr. Mit festem Blick schaut er mich an, säuselt etwas in einer mir unbekannten Sprache. In dieser Sekunde legt sich ein Schalter in mir um. Ich begreife, dass der Mann mich ausrauben möchte und fange an zu schreien. Schreie, als ob mein Leben davon abhängt.

Nur Sekunden vor dem Angriff lief eine Frau an mir vorbei, nach ihr halte ich jetzt verzweifelt Ausschau. Ich rufe immer wieder „Hilfe! Ich brauche dringend Hilfe! Bitte helfen Sie mir doch.“ Mittlerweile sind einige Personen auf mich aufmerksam geworden und haben sich in sicherer Entfernung von etwa zehn Metern positioniert. Der fremde Mann beginnt, meine Jackentaschen abzutasten. Ich ziehe am Riemen meiner Tasche, versuche, seine Hände von meinem Körper fernzuhalten und rufe weiterhin nach Hilfe. Und die Passanten? Sie stehen einfach nur da.

Der Fremde hämmert gegen die Tür

Um 22.27 Uhr geht ein Notruf bei der Polizei ein. Ich habe die Beamten selbst angerufen, denn nach einigen Minuten nähert sich uns ein Fahrradfahrer. Er hält zwar einige Meter Abstand zu uns, aber trotzdem lässt der Fremde von mir ab. Diesen Moment nutze ich und laufe auf das gegenüberliegende Gebäude zu. Dabei handelt es sich nicht um ein Wohnhaus, sondern um einen Anbau des Staatsschauspiel Dresden. Ich klopfe an die große braune Holztüre. Nur wenige Sekunden später wird diese von einer Security-Mitarbeiterin geöffnet.

Ich schildere ihr kurz meine Situation und frage, ob ich mich hier kurz aufhalten könnte, bis die Polizei vor Ort ist. Sie zögert, lässt mich dann aber doch rein. Dann erzählt sie mir, dass sie alles über die Kamera live von drinnen mitverfolgt habe und fügt hinzu: „Da haben Sie ja noch mal Glück gehabt, dass der kein Messer bei sich hatte.“ Unterdessen hämmert der Fremde gegen die Tür.

Mehrere Beamten müssen den Mann überwältigen

Die Security-Frau bekommt jetzt rote Flecken an ihrem Hals und fragt mich, was wir denn jetzt machen sollen. Ich wähle also den Notruf, erkläre, wo ich mich aufhalte und was mir passiert ist. Nachdem ich aufgelegt habe, atme ich tief durch. Ich setzte mich auf den Boden neben die große Holztür und warte. Etwa 20 Minuten nach meinem Anruf bei der Polizei wird mein Angreifer von fünf Beamten überwältigt. Wie man mir später erzählen wird, leistete er enormen Widerstand.

Noch am selben Abend wird meine Zeugenaussage aufgenommen, doch am nächsten Tag muss ich erneut ins Revier, um Fotos von meinem Bein machen zu lassen. Mein Handy wurde so stark an meinen Oberschenkel gedrückt, dass die Kante des Telefons jetzt in Form eines Hämatoms sichtbar ist. Der blaue Fleck verblasst schnell, aber die Tatsache, dass niemand mir zur Hilfe kam, geht mir nicht aus dem Kopf. Wieso hat niemand die Polizei gerufen?

Zivilcourage ist in den vergangenen Jahren zu einem heiklen Thema geworden. Auf der einen Seite häufen sich die Fälle, bei denen Helfer selbst zu Opfern werden. Menschen, die eingreifen, werden immer wieder schwer verletzt, manchmal sogar getötet. Auf der anderen Seite gibt es Fälle, bei denen die Situation von außen betrachtet als gefährlich eingestuft wird. Passanten greifen ein, rufen die Polizei und letztlich handelt es sich nur um einen Streit zwischen Freunden. Unbeteiligten mag es schwerfallen, die Lage richtig einzuschätzen.

Das alles verstehe ich und niemand sollte sich bewusst in eine Gefahrensituation begeben. Selbst wenn eine junge Frau um Hilfe ruft und augenscheinlich von einem Mann belästigt wird, dann verlange ich nicht einmal, dass jemand aktiv eingreift, der sich nicht dazu bereit fühlt. Trotzdem kann man weitere Personen auf die Situation aufmerksam machen und gemeinsam entscheiden, ob man eingreift oder von außen hilft, indem man den Notruf wählt.

Raub, Körperverletzung, Sachbeschädigung

Hilflosigkeit hat eine dunkle Farbe. Sie ist schwarz wie die dunkelste Nacht – ganz anders als die Farben des Sonnenuntergangs. Und sie wird noch dunkler, wenn Menschen die Augen vor der Hilflosigkeit einer anderen Person verschließen: „Was mich nicht betrifft, geht mich nichts an.“ In vielen Momenten mag dieser Satz zutreffend sein. Manchmal nicht.

Sechs Monate später. Ich betrete den Eingangsbereich des Landesgerichts Dresden, reiche dem Beamten meine Tasche und unterziehe mich einer Ganzkörperkontrolle. Heute steht der Mann vor Gericht, der mich vor einem halben Jahr von Hinten angegriffen hat. Die Anklage lautet: versuchter Raub, Körperverletzung, Sachbeschädigung. Jetzt sitze ich hier, alleine, und warte.

Und dann wird es dunkel um mich herum

Mein Angreifer wird in den Gerichtssaal geführt – seine Hände sind gefesselt. Zwei Polizisten weichen nicht von seiner Seite, beobachten jede seiner Bewegungen. Später wird man mir erklären, dass er psychisch auffällig sei und ein erhöhtes Sicherheitsrisiko von ihm ausgehe. Seine Handlungen seien unberechenbar. Die Untersuchungshaft hat er seit Mai nicht verlassen und wie es nach dem Gerichtsurteil mit ihm weiterging, habe ich nie erfahren.

Während meiner Aussage vor Gericht breche ich in Tränen aus, kämpfe dagegen an, schaffe es aber nicht. Es liegt nicht daran, dass mich jemand ausrauben wollte, damit habe ich persönlich ziemlich schnell abgeschlossen. Sobald ich aber darüber spreche, dass niemand mir zu Hilfe kam, dann wird es dunkel um mich herum. Das pechschwarze Gefühl der Hilflosigkeit streckt seine Finger nach mir aus. Und trotzdem habe ich meinen Glauben an die Hilfsbereitschaft, die in fast jedem von uns steckt, nicht verloren. Ich lasse nicht zu, dass eine negative Erfahrung all meine positiven Erlebnisse überschattet.

Wieso erzähle ich das alles? Es geht nicht um Mitleid, um Aufmerksamkeit oder ähnliches. Es geht darum, dass wir als Gesellschaft nicht wegschauen dürfen, wenn sich jemand in einer Notlage befindet. Was mich angeht; ich werde weiterhin wachsam durch die Welt laufen, auf das Vertrauen in andere bauen und immer dann helfen, wenn ich gebraucht werde.

Die Sonne geht wieder unter. Heute blicke ich nicht auf die Elbe, sondern auf die unzähligen Häuserdächer Berlins. Die Stadt pulsiert und leuchtet mit dem Himmel um die Wette. In wenigen Minuten wird es draußen dunkel sein. Ich nehme einen letzten Atemzug, drehe mich um, ziehe meine Schuhe an und verlasse die Wohnung. Die Nacht ist noch jung und ich bin ein Teil von ihr.