Zukunft des Verkehrs: Der holprige Weg zur Fahrradstadt Berlin

Berlin - Der Unterschied sticht ins Auge. Drinnen: schöne neue Fahrradwelt. Erwachsene probieren die neuesten E-Bikes und Lastenräder aus, Kinder jagen auf Laufrädern lachend dahin. Kein Auto ist in der Nähe. Draußen: grauer Berliner Fahrradalltag. Holperpflaster, Gitter und andere Herausforderungen erwarten auf dem Tempelhofer Damm all jene, die so wagemutig sind, sich mit dem Fahrrad zum größten Fahrradfestival Europas bewegen zu wollen. Die VELO Berlin, die an diesem Wochenende die Hangars 5 und 6 im einstigen Flughafen Tempelhof mit Leben erfüllt, lässt die Differenz zwischen Theorie und Praxis mit maximaler Klarheit deutlich werden. Es könnte so schön sein, sich auf zwei Rädern in Berlin zu bewegen – ist es aber nicht. Zumindest vielerorts.

Fahrradstadt Berlin: Das ist ein Motto, das immer wieder ausgerufen wird. Von Planern und Politikern, die stolz auf ihre Leistungen hinweisen. Von Aktivisten, denen das Erreichte nicht genug ist. Von Menschen, die eine schöne neue Fahrradwelt, wie sie sich nun zwei Tage lang im früheren Zentralflughafen entfaltet, alle Tage und überall haben möchten.

Fahrradstadt Berlin – ist das überhaupt realistisch? So viel steht fest: Die Zahl der Berliner, die dagegen sind, ist groß – auch wenn man das in der Radszene nicht wahrhaben will.

Da sind die Autofahrer, die das Treiben auf Berlins Straßen zutreffend als das sehen, was es ist: als Kampf um knapp werdenden Raum. Die sich bedrängt fühlen von Radlern, die unvermittelt in die Quere kommen, selbst wenn man vor dem Abbiegen brav in alle Richtungen geschaut hat. Autofahrer, die sehen, dass ihr Bewegungs- und Parkraum eingeengt wird – durch Radfahrstreifen, durch neue Fahrradstellplätze.

Klassenkampf auf Rädern

Da sind die Paket- und Lieferfahrer, die als prekär bezahlte Freiberufler durch Berlin jagen, und sich dabei immer wieder gebremst fühlen – von Radfahrern, bei denen der Anteil der Akademiker höher ist als im Lieferverkehr: Klassenkampf auf Rädern.

In eine ähnliche Kategorie fallen die Wenigverdiener, die noch im Zentrum leben. Die Autobesitzer unter ihnen fühlen, dass sich die verkehrspolitische Debatte über höhere Parkgebühren und eine City-Maut gegen sie richtet. Wenn Autofahren teurer wird, ohne dass andere Alltagskosten sinken, kann das wie höhere Mieten zur Verdrängung ärmerer Berliner aus der City beitragen. Eine Normalisierung wie in anderen Metropolen, würden Zyniker anmerken.

Nicht zu vergessen die Milieus, in denen möglichst schnelle und möglichst große Autos als Beweis, es geschafft zu haben, gelten. Milieus, in denen Auto fahren Machtausübung und Radfahren etwas für Verlierer ist. Dann sind da die Alten, die nur eingeschränkt beweglich sind. Und die Pendler, die für ihre tägliche Fahrt von Buch nach Spandau nicht das Rad nehmen wollen – und so weiter. Und so fort.

So viel steht fest: Wenn Rad fahren in dieser Stadt sicherer und attraktiver werden soll, werden Politiker und Planer Entscheidungen treffen müssen, die vielen Berlinern nicht gefallen. Das zeigt sich exemplarisch in Lichtenberg, wo die geplante Ausstattung eines 500 Meter langen Abschnitts der Siegfriedstraße mit geschützten Radfahrstreifen nach Protesten erst einmal ins Verwaltungsnirwana verwiesen worden ist. Wenn schon ein halber Kilometer und der Verlust einer niedrigen zweistelligen Zahl von Parkplätzen so viel Ärger erzeugen. Wie wollen es die Verantwortlichen schaffen, einen größeren Bruchteil des 5400 Kilometer langen Straßennetzes sicherer zu gestalten?

Höhnische Kritik an der Begegnungszone

Ein anderes Beispiel ist die Bergmannstraße in Kreuzberg. Anlieger hatten sich über den Autoverkehr Autos beschwert. Jetzt, wo Gegenmittel erprobt werden, scheint das vergessen zu sein. Höhnischer Protest gegen die Begegnungszone und ihr putziges Mobiliar wallt auf. Aber welche Alternativen gäbe es – außer den alten Zustand herzustellen?

Im vergangenen Jahr wurden ausschließlich mit Senatsgeld gerade mal fünf Kilometer Radverkehrsanlagen neu markiert, 2,5 Kilometer neu geschaffen und neun Kilometer zwecks besserer Sichtbarkeit grün unterlegt. Zwar sind in dieser Rechnung auch Bezirksprojekte zu berücksichtigen. Doch die Radaktivisten haben Recht: Die Verkehrswende geht in Berlin nur langsam voran.

Dazu trägt auch die Zweistufigkeit der Verwaltung, die Trennung in Senats- und Bezirkskompetenzen bei. Sie macht Verfahren kompliziert. Friedrichshain-Kreuzberg hat 2018 aus dem Landes-Etat für neue Radwege fast 563 000 Euro abgerufen, Marzahn-Hellersdorf nur 75 900 Euro. Fast zwei Jahre nach den ersten Ausschreibungen sind von den 24 Stellen für Radverkehrsplaner, die in den Bezirksämtern geschaffen wurden, acht immer noch nicht besetzt.

Unerträglich voll

In dieser Demokratie scheint es schwierig zu sein, Berlin zügig fahrradfreundlich zu gestalten. Doch ein anderes Ziel ist nicht denkbar, auch weil sich immer mehr Befürworter mit demokratischen Mitteln zu Wort melden. Berlin ist dabei, im Autoverkehr zu ertrinken. Selbst wer seit Jahrzehnten das Autofahren anderen Fortbewegungsarten vorzieht, der merkt, dass es auf den Straßen unerträglich wird – unerträglich voll.

Es ist nur gerecht, den Raum zum Teil anders zu nutzen: mit Straßenbahnen, Bussen und Fahrrädern, die alle im Verhältnis zum beanspruchten Platz effizienter sind als Autos, in denen jeweils nur ein Mensch sitzt. Es ist ein Lernprozess, der bei vielen noch gar nicht begonnen hat. Doch Berlin muss sich entscheiden. Nie wirkte ein „Weiter so“ so antiquiert.