Zum Mythos von der deutschen Ordnung: „Kommste heut nich, kommste morjen“

Wie ist das mit der deutschen Ordnung, die einst Vorbild gewesen sein soll? Der Autor erinnert sich an Sprüche und Geschichten, die ihn als Kind prägten.

Zu lange im Lockdown gewesen? Nein, dies ist die Titelzeichnung des Urmanuskripts vom „Struwwelpeter“, entstanden 1844.
Zu lange im Lockdown gewesen? Nein, dies ist die Titelzeichnung des Urmanuskripts vom „Struwwelpeter“, entstanden 1844.dpa/Germanisches Nationalmuseum Nürnberg

Berlin-Neulich hatten wir einen Text zum „Mythos von der deutschen Ordnung“ im Blatt. Er konstatierte, dass hierzulande inzwischen zu vieles schlampig, nachlässig und verantwortungslos laufe. Das stimmt. „Heilije Ordnung, sejensreiche!“, sagt der Berliner ironisch, Schiller zitierend. Der Lockdown tut sein Übriges. Nicht nur um den Kopf kommt man sich zurzeit ziemlich schluffig vor.

Die Ideale von Ordnung und Fleiß wurden einst hochgehalten. Meine erste Lehrerin – um 1970 – deklamierte zum Beispiel gern Sprüche wie: „Sechs mal sechs ist sechsunddreißig./ Ist die Mutti noch so fleißig/ und der Vater liederlich,/ taugt die ganze Wirtschaft nichts“ – „Morgen, morgen, nur nicht heute/ sagen alle faulen Leute“ – „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“

Wenn ich krank zu Hause lag, hörte ich oft die Geschichten vom „Struwwelpeter“. Ich schwitzte und gruselte mich. Dem Daumenlutscher, der nicht auf die Mama gehört hatte, wurden dort – „klipp und klapp“ – zur Strafe beide Daumen abgeschnitten. Paulinchen, das trotz Warnung neugierig mit dem Feuerzeug spielte, ging  „lichterloh“ in Flammen auf.

Der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann hatte die „lustigen Geschichten und drolligen Bilder“ 1844 zu Weihnachten für seinen Sohn Carl gefertigt. Und ich frage mich heute, ob er dem damals Dreijährigen (!) wirklich das Ende Paulinchens als Gutenachtgeschichte vorgelesen hat. „Verbrannt ist alles ganz und gar,/ Das arme Kind mit Haut und Haar;/ Ein Häuflein Asche bleibt allein/ Und beide Schuh’, so hübsch und fein.“ Nun schlaf gut, mein Kind!

Der Erziehungsstil hat sich zum Glück gewandelt. Die „deutsche Ordnung“ hatte eben nicht nur jenen positiven Klang, dass alles wie am Schnürchen läuft. Nein, dahinter stand auch immer die dunkle Drohung der Strafe, wenn man etwas tat, was „nicht in Ordnung“ war.

„Das Gute – dieser Satz steht fest –/ ist stets das Böse, was man lässt!“ Auch bei Wilhelm Busch – dem begnadeten Dichter und Zeichner – stand am Ende oft der Tod als Strafe. Nicht nur die jugendlichen Rowdys Max und Moritz müssen sterben. Auch Fipps der Affe, der lauter Streiche macht, haucht sein Leben aus. Ebenso die fromme Helene und ihre Mitgestalten: wegen Fremdgehens und falscher Frömmelei, gepaart mit Alkoholmissbrauch.

Aber Wilhelm Busch unterläuft zugleich geschickt so manches Verstaubte, Autoritäre. Dies tut übrigens auch so mancher alte Berliner Spruch, der sich subversiv gegen erstarrte Vorstellungen von Fleiß und Ordnung richtet: „Kommste heut nich, kommste morjen“ – „Et jibt ville zu tun, warten wir’s ab“ – „Besser jar nich erst anfangen, als nischt zu Ende bringen“ – „Lebe glücklich, lebe froh,/ wie der Mops im Paletot.“

Aber man darf nicht vergessen: Auch dies sind nur Sprüche! So wenig mich die Schilderungen von Paulinchens Feuertod einst als Kind davon abhielten, selbst heimlich mit Streichhölzern zu spielen, so wenig glaube ich heute, dass man die Berliner Schnoddrigkeiten als direkte Arbeitsanweisung für die Berliner Verwaltung sehen sollte.