Zwei Stolpersteine und ein schweres Versäumnis

In der Stallschreiberstraße in Mitte wird an ein Ehepaar erinnert, das in der Nazizeit ein Grundstück verlor. Die Erben bekamen bis heute nur einen Teil zurück. 

In der Stallschreiberstraße wurden Stolpersteine für Oskar und Elly Schulz verlegt, sie besaßen dort ein Grundstück, das sie verfolgungsbedingt verloren.
In der Stallschreiberstraße wurden Stolpersteine für Oskar und Elly Schulz verlegt, sie besaßen dort ein Grundstück, das sie verfolgungsbedingt verloren.Sabine Gudath

Es nieselt, als am Sonnabend zwei kleine Steine mit einer Messingoberfläche an der Stallschreiberstraße in Mitte ins Straßenpflaster gesetzt werden. Es sind zwei „Stolpersteine“, wie sie seit 1996 zur Erinnerung an die Opfer aus der Zeit des Nationalsozialismus an den letzten frei gewählten Wohnadressen angebracht werden. Die beiden neuen Steine in Berlins Mitte erinnern an den jüdischen Kaufmann Oskar Schulz und seine nichtjüdische Ehefrau Elly Schulz, die in der Stallschreiberstraße 23/23a gelebt haben.

Der im Jahr 1895 geborene Oskar Schulz wurde am 31. März 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet. Seine Ehefrau wurde „ausgegrenzt“ und „drangsaliert“, überlebte aber die Nazizeit, wie auf dem Stolperstein zu lesen ist. Sie starb 1978.

Die Schweizerin Marion Niemi, eine Nachfahrin von Oskar Schulz, ist für die Zeremonie am Sonnabend extra nach Berlin gekommen. „Die Verlegung dieser Stolpersteine für meinen Großonkel, der vergast wurde, und seine Frau, Tante Elly, an die ich mich noch gut erinnere, ist für mich und den Rest der überlebenden Familie von großer Bedeutung“, sagt die 69-Jährige. „Ich bin froh, dass Oskar und Elly Schulz mit den Stolpersteinen nun einen festen Platz in der Geschichte der Stadt Berlin bekommen.“

Marion Niemi bezeichnet es als „Schande“, dass ihre Familie nur fünf Achtel eines unter den Nazis verlorenen Grundstücks zurückbekam. Die restlichen drei Achtel verkaufte der Bund.
Marion Niemi bezeichnet es als „Schande“, dass ihre Familie nur fünf Achtel eines unter den Nazis verlorenen Grundstücks zurückbekam. Die restlichen drei Achtel verkaufte der Bund.Sabine Gudath

Die Stolpersteine in der Stallschreiberstraße wurden neben der Zufahrt zum 2020 fertiggestellten Wohnquartier Luisenpark in das Straßenpflaster eingelassen. Dort erinnern sie zugleich an ein unrühmliches Kapitel im wiedervereinigten Deutschland. Denn das Grundstück, das einst Oskar und Elly Schulz gehörte, wurde nur zum Teil an ihre Nachkommen zurückerstattet.

Die Familie, aus der Oskar Schulz stammt, war vermögend. „Oskar Schulz’ Mutter war eine geborene Zwicker aus der heute tschechischen, damals mährischen Stadt Zwittau/Svitavy“, hat der Historiker Peter Kamber recherchiert. „Die Zwickers hatten ihren Eisenwarenladen zur größten Eisenhandelsfirma der k. u. k. Monarchie und später, ab 1918, der Tschechoslowakei ausgebaut“, so Kamber.

Eheleute verschenkten ihren Besitz aus Angst vor Arisierung

Oskar und Elly Schulz gehörte das 2576 Quadratmeter große Grundstück in der Stallschreiberstraße 23/23a, als die Nazis 1933 an die Macht kamen. Die Fläche stand im Eigentum der Berliner Grundstücksaktiengesellschaft Stallschreiberstraße 23 und 23a, deren alleinige Anteilseigner Oskar und Elly Schulz waren. Nach Auflösung der Aktiengesellschaft wurden Oskar Schulz zu fünf Achteln und Elly Schulz zu drei Achteln im Februar 1938 im Grundbuch als Eigentümer eingetragen.

Um ihre Immobilie vor einer drohenden Arisierung durch die Nazis zu sichern, verschenkten Oskar und Elly Schulz im Oktober 1938 ihre Anteile an dem Grundstück an die nichtjüdische Mutter von Elly Schulz. Klar war zu diesem Zeitpunkt, dass auch die nichtjüdische Ehefrau von Oskar Schulz mit Verfolgung rechnen musste. In den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 hatten die Nazis die Eheschließung von Nichtjuden mit Juden verboten. Verstöße wurden als „Rassenschande“ bezeichnet und waren mit Gefängnis und Zuchthaus bedroht. Unter dem Druck ließen sich die Eheleute später sogar scheiden.

Im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs wurde die Bebauung des Mietwohn- und Fabrikgrundstücks zerstört, später wurde das Areal Teil des Mauerstreifens. Von der Familie von Oskar Schulz überlebten nur die wenigsten die Verfolgung in der Nazizeit, wie der Historiker Peter Kamber herausfand. Zu ihnen gehörte die in Wien aufgewachsene Mutter von Marion Niemi, Inge Ginsberg.

Antrag auf Rückübertragung nach der Wiedervereinigung

Nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 stellte die Erbin von Oskar Schulz, Charlotte Stein, einen Antrag auf Rückübertragung des Grundstücks in der Stallschreiberstraße. Im Jahr 2003 sprach das Berliner Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen (Larov) Charlotte Stein das Rückübertragungsrecht zu. Im Bescheid stellte das Amt fest: „Die Verfolgung durch die Nationalsozialisten war ursächlich für den Vermögensverlust.“ Charlotte Stein erhielt jedoch nur die fünf Achtel des Grundstücks, die Oskar Schulz besessen hatte. Der Rest, der im Eigentum seiner Frau war, blieb im Besitz der Bundesrepublik Deutschland, der die Mauergrundstücke zugeordnet wurden.

Die Jewish Claims Conference (JCC) machte nach der Wiedervereinigung für jüdische Alteigentümer pauschal Ansprüche geltend, um deren Rechte zu wahren. Sie stellte auch für das Grundstück an der Stallschreiberstraße 23 und 23a einen Rückübertragungsantrag. Die Behörde lehnte den Antrag jedoch ab. Auf die Anteile von Oskar Schulz habe die JCC kein Recht, weil es mit Charlotte Stein bereits eine Erbin gebe. Und Anspruch auf die Anteile der nichtjüdischen Ehefrau Elly Schulz könne die JCC nicht geltend machen, weil ihr dafür die Berechtigung fehle.

Ergebnis: Drei Achtel des Grundstücks blieben im Besitz der Bundesrepublik Deutschland. Versuche von Marion Niemi, diese Teile des Familiengrundstücks zurückzubekommen, schlugen fehl. Niemi schrieb sogar einen Protestbrief ans Kanzleramt – ohne Erfolg.

Bund verkaufte kleine Fläche inmitten eines riesigen Areals

Im Jahr 2016 verkaufte die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) ein rund 16.500 Quadratmeter großes Grundstück an der Stallschreiberstraße sowie die drei Achtel am Grundstück Stallschreiberstraße 23/23a, die mitten in dem riesigen Areal lagen, an einen privaten Investor. Dieser hatte 29,1 Millionen Euro geboten. Der Investor bekam den Zuschlag und ließ auf dem Areal das Quartier Luisenpark mit 417 Eigentumswohnungen und 139 Mietwohnungen errichten. Auf eine anteilige Entschädigung wartet Marion Niemi, die Erbin, bis heute.

Sie könne weder verstehen noch akzeptieren, dass die Bundesregierung den durch die Nazis verursachten Vermögensverlust bis heute nicht kompensiert habe, sagt Niemi. Der ganze Besitz sei damals mit dem aus der jüdischen Familie stammenden Geld gekauft worden. „Trotzdem haben wir nur fünf Achtel des Grundstücks in der Stallschreiberstraße nach der Wiedervereinigung zurückbekommen“, so Niemi. Das sei „eine Schande“ für Deutschland. Die Stolpersteine seien zugleich „eine Mahnung an die Bundesrepublik Deutschland, dass es auch heute noch einiges zum Wiedergutmachen gibt“, so Niemi.