Michael Heinisch war als einer von 60 Bürgern beim Bundespräsidenten zum Neujahrsempfang: Bloß nicht übers Wetter reden

Der Brief, das weiß Michael Heinisch noch genau, lag am 17. Dezember 2010 in der Post. Es war ein weißer Brief, völlig unscheinbar. Heinischs Sekretärin öffnete den Umschlag, begann das dreiseitige Schreiben zu lesen und klopfte wenig später an seine Bürotür. "Da ist was Komisches mit der Post gekommen", sagte sie. "Ich glaube, da solltest du dich zurückmelden." Der Vollständigkeit halber hat Michael Heinisch in seinen Kalender geschaut und dann ein Fax geschickt: Ja, er werde teilnehmen am traditionellen Neujahrempfang des Bundespräsidenten, wenn im Schloss Bellevue nicht nur Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft empfangen werden, sondern auch engagierte Bürger. Wie Sozialdiakon Michael Heinisch aus Lichtenberg.Schwarzer Anzug statt JeansGenau 27 Tage später wartet der 46-Jährige mit 62 anderen Geehrten vor dem Eingang zum Langhanssaal in Schloss Bellevue. Es ist kurz vor zehn Uhr. Heinisch, der sonst weite Jeans mit Hosenträgern und T-Shirts bevorzugt, trägt einen schwarzen Anzug und ein Schild mit seinem Namen am Revers. Die Männer und Frauen, die sich seit vielen Jahren für andere engagieren - seien es Kinder, Häftlinge oder Biber - haben gerade ihre Selbstbestimmtheit aufgegeben und in die Hände des bundespräsidialen Protokolls gelegt. Nichts, was jetzt geschieht, ist dem Zufall überlassen. Anstehen nur hintereinander - alles ist festgelegt und abgestimmt, minutengenau.Zunächst werden die 60 Journalisten in den Saal gelassen. Eine kleine Tribüne mit drei Stufen ist aufgebaut, jeder soll etwas sehen können. Mit roter Kordel ist der Pressebereich abgegrenzt, davor ist ein Laufsteg entstanden, links und rechts von Flügeltüren begrenzt; in der Mitte eine Flagge, daneben ein Mikrofon und ein Tischchen mit einem Glas Wasser. Dieses Wasser, das wird bald klar, ist aber nicht für den Bundespräsidenten gedacht, sondern für jenen Mann, der in den kommenden zwei Stunden viel zu sagen hat: den Protokollchef des Bundespräsidialamtes, Edmund Kammerer. Die Namen aller Gäste wird er aufrufen, darunter Klaus Wowereit, Angela Merkel, Michael Sommer, Gesine Lötzsch, Marianne Birthler - und Michael Heinisch.Michael Heinisch ist ein fülliger Mann, er hat wenig Haare und fünf Kinder, er ist Pfarrerssohn und hat einen Sitz im Lichtenberger Bezirksparlament. Er stammt eigentlich aus Frankfurt (Oder) und ist seit 2004 Mitglied der Grünen. Anfang 1989 begann er als Sozialdiakon in Lichtenberg und kümmerte sich um kriminelle oder gefährdete Jugendliche. Als Häuser besetzt wurden und linke und rechte Jugendliche aneinandergerieten, versuchte Heinisch zu vermitteln. Er stellte runde Tische auf die Straße, holte die Jugendlichen dazu. Er bekam Morddrohungen, geriet zwischen die Fronten, blieb aber dabei. 1990 kaufte er für eine D-Mark ein leer stehendes Haus in der Pfarrstraße, gründete den Verein Sozialdiakonische Jugendarbeit Lichtenberg und sanierte das Gebäude mit Jugendlichen. Heute hat sein Verein 300 Mitarbeiter und kümmert sich um 2500 Menschen zwischen Falkenberg und Schönefeld. Jeder der 63 Geehrten hat eine ähnlich bewegende Geschichte. Es sind Frauen und Männer, denen andere Menschen wichtig sind. Heute sind sie selbstn einmal wichtig.Es ist nicht das erste Mal, dass Heinisch einen Bundespräsidenten trifft. Auch 1994 wurde er zum Neujahrsempfang geladen, damals von Richard von Weizsäcker. "Das Schloss war zur der Zeit eine Bruchbude", erzählt Heinisch. "Es hat sogar streng gerochen." Heute ist das Haus saniert, es riecht gut. Er freue sich, sagt Heinisch. "Ich gelte als unbequem, ich bin hartnäckig und mache mir nicht nur Freunde. Das hier ist eine Würdigung meiner Arbeit, und ich hoffe, dass mir das auch Türen öffnet bei Behörden oder Politikern."Plötzlich kommt Bewegung in den Saal - der Bundespräsident und seine Frau Bettina haben den Raum betreten. Nun geht es zügig. "Wir beginnen jetzt mit dem Defilee", spricht Edmund Kammerer in das Mikrofon, und um 10.05 Uhr setzt sich die Prozession in Bewegung, stets nach dem gleichen Muster: Kammerer ruft Namen auf und Funktion, der Aufgerufene betritt den Saal und geht auf Wulff zu. Dann folgen Händeschütteln und ein kleines Gespräch, ein kurzer Blick zu den Fotografen; der Nächste, bitte. Um 10.40 Uhr ist Michael Heinisch an der Reihe.Der Präsident lächeltDie Begegnung mit Christian Wulff dauert 30 Sekunden. Ein richtiges Gespräch ist da schon zeitlich nicht drin, aber Michael Heinisch hat sich etwas überlegt. Langsam geht er auf den Bundespräsidenten zu, er lächelt. Als er vor ihm steht, sagt Heinisch etwas, es ist nicht zu verstehen aus der Entfernung, aber Wulff lächelt zurück und antwortet. Worüber sie gesprochen haben? "Es war nichts Geheimes", sagt Heinisch. "Ich habe ihm ein gesundes neues Jahr gewünscht und gefragt, ob er mir das auch wünscht." Er lacht. "Ich wollte auf keinen Fall übers Wetter reden. Das war mir zu trivial."------------------------------Erster Amtssitz seit 1994Schloss Bellevue wurde im Auftrag des jüngsten Bruders von Friedrich II., Ferdinand von Preußen, nach Plänen von Michael Philipp Boumann errichtet und 1786 fertiggestellt.Während des Zweiten Weltkrieges wurde das Schloss im April 1941 ausgebombt und in den Jahren 1954 bis 1957 wieder aufgebaut. Das Gebäude wurde neben der Villa Hammerschmidt in Bonn als zweiter Amtssitz des Bundespräsidenten genutzt.Seit dem Jahr 1994 ist das Schloss Bellevue, inmitten des Tiergartens gelegen, der erste Amtssitz des deutschen Bundespräsidenten. Roman Herzog war der einzige Bundespräsident, der von 1994 bis 1998 selbst im Schloss wohnte. In den Jahren 2004 und 2005 wurde das Gebäude grundlegend renoviert.------------------------------Foto: Der Neujahrsempfang findet traditionell im Schloss Bellevue statt.Foto: Ein Händedruck als Dankeschön: Michael Heinisch mit Bundespräsident Christian Wulff und dessen Gattin Bettina. Auf das Defilee folgte ein Essen.