Millionen für den guten Ruf

Berlin - Natalie Müller genießt den Blick aus ihrer Wohnung an der Finsterwalder Straße. Bis zum Teufelsberg kann sie vom sechsten Stock aus sehen. „Im Märkischen Viertel ist es schön. Die Bewohner sind freundlich, die Häuser sind weiß, die Wohnungen hell und die Gegend sehr grün“, sagt sie. Erst vor drei Wochen ist Natalie Müller mit ihrem Mann Anatol und den Kindern Dimitri (15) und Emily (3) in die neue Wohnung gezogen. Zum Einzug hat eine Nachbarin Kuchen gebracht.

Es sei ihnen nicht leicht gefallen, den alten Kiez in Charlottenburg-Nord zu verlassen, sagt Müller. Sie haben dort aber keine größere und zugleich auch bezahlbare Wohnung gefunden. An der Finsterwalder Straße hat es der 35-jährigen Buchhalterin gleich gefallen. Die Einkaufsmöglichkeiten im Märkischen Zentrum am Wilhelmsruher Damm seien gut, die Verkehrsverbindungen mit S- und U-Bahn und Bussen perfekt. Und die 88 Quadratmeter große Wohnung ist gerade von der Gesellschaft für sozialen Wohnungsbau (Gesobau) saniert worden.

Natalie Müller ist überzeugt, dass sich die Familie schnell einleben wird. Auf Berichte über Jugendbanden und eine hohe Kriminalität gibt sie nicht viel. „Das wird in den Medien alles aufgeputscht“, sagt sie. Natürlich hat sie von dem 17-Jährigen gehört, der im Dezember 2010 bei einem Streit zwischen zwei rivalisierenden Jugendgruppen am U-Bahnhofs Wittenau erstochen wurde. Kriminalität gebe es auch in anderen Bezirken, sagt sie. Und es sei gut für die Entwicklung der Kinder, wenn viele Nationalitäten wie im Märkischen Viertel zusammenleben. „Die Kinder spielen zusammen auf den Spielplätzen. Dort werden Freundschaften zu anderen Familien geschlossen.“

Die Vorurteile zum Märkischen Viertel halten sich hartnäckig. Es soll gefährlich sein, heißt es. Und Großsiedlungen seien sowieso hässlich, nur Hartz-IV-Familien würden dort wohnen. Geprägt wurde das schlechte Image schon beim Bau der Retortensiedlung in den 1960er-Jahren. Schulen, Geschäfte und Freizeiteinrichtungen entstanden erst viel später. Das Viertel mit bis zu 20 Geschossen hohen Wohntürmen nahe der Berliner Mauer wurde als trist und „grau in grau“ beschrieben. Anfang der 90er-Jahre sorgten dann Jugendgangs wie die „Fighters“ für negative Schlagzeilen. Sie trugen ihre Schlachten mit anderen Gangs auf den Straßen aus. Tatsächlich ist es heute im Märkischen Viertel nicht gefährlicher als in anderen Stadtteilen. In der Berliner Kriminalitätsstatistik nimmt es einen mittleren Platz ein – es gibt dort sogar weniger Straftaten als im Berliner Durchschnitt.

Wolfgang Müssigbrodt sitzt in einem kleinen Pavillon neben dem Hauseingang Senftenberger Ring 86. Auf dem Computerbildschirm vor ihm sind Livebilder von mehreren Videokameras zu sehen, die auch Parkplätze überwachen. Früher wurden Autoradios geklaut und Müll abgeladen. Das sei jetzt deutlich weniger geworden, die Kameras schrecken ab, sagt Müssigbrodt. Er ist seit sechs Jahren Concierge beim Wohnungsunternehmen Degewo. Für 1 500 Mieter ist er Ansprechpartner, nimmt Pakete entgegen, kümmert sich um Handwerker, gießt auch mal Blumen, wenn jemand verreist ist.

„Probleme? Ich habe hier noch nie welche gehabt“, sagt Müssigbrodt. Er führt das auf seine kräftige Statur zurück, er werde als Respektsperson akzeptiert. Auch als Streitschlichter, etwa wenn ein Jugendlicher einem anderen das Handy abgezogen hat. Oder wenn sich nachts jemand über laute Musik in der Nachbarwohnung beschwert. „Man kennt die Bewohner und die meisten Jugendlichen, dann spricht man mit ihnen. Darf sich aber auch nicht aus der Ruhe bringen lassen, wenn man mal beschimpft wird“, sagt er. Obwohl hier fast 40 000 Menschen leben, sind die Wohnstraßen mit Ausnahme des Wilhelmsruher Damms oft menschenleer. Die mittlerweile hohen Bäume verdecken die riesigen, toten Parkplätze vor den Wohntürmen. Die Gehwege sind sauber, nicht mal Hundekot gibt es.

Derzeit befindet sich das Märkische Viertel in einem Umbruch. Ob der Imagewandel gelingt, weiß niemand. Die Gesobau, der 15 000 Wohnungen dort gehören, startete vor drei Jahren eines der größten Modernisierungsvorhaben in der Bundesrepublik. Auch, um die Verfallsspuren der vergangenen vier Jahrzehnte zu tilgen. 13 000 Wohnungen werden bis 2017 auf Vordermann gebracht – für 440 Millionen Euro werden Leitungen erneuert, neue Fenster eingebaut, die Fassaden gedämmt. So sollen die Energiekosten für die Mieter sinken, die Mieten aber nur geringfügig steigen – durchschnittlich sind es bislang etwa 15 Euro im Monat. Um das Sicherheitsgefühl der Menschen zu verbessern, werden unübersichtliche Durchgänge geschlossen und die Hauseingänge mit Videokameras überwacht. Dass man investieren muss, um den Niedergang zu stoppen, hat auch das Land Berlin erkannt. Das Gebiet wurde in das Förderprogramm Stadtumbau West aufgenommen, bis 2015 stehen 15 Millionen Euro zur Verfügung. Die Bewohner wünschen sich schönere Wege in den Parks, mehr Beleuchtung, und das seit Jahren leerstehende Arbeitnehmerwohnheim am Markt soll saniert oder abgerissen werden. Einige Fuß- und Radwege werden schon gebaut, Spielplätze saniert, die Chamisso-Grundschule erhält einen Erweiterungsbau. „Durch die Fülle der Maßnahmen erlebt das Viertel wieder eine erhebliche Aufwertung“, sagt Reinickendorfs Bürgermeister Frank Balzer (CDU).

Klaus Szlapka ist als Geschäftsmann grundsätzlich optimistisch. Schließlich haben seine Eltern den Wochenmarkt am Märkischen Zentrum aufgebaut, seit 14 Jahren ist er der Chef. „Die Umsätze gehen aber wie überall zurück. Und das Publikum ist eher älter“, sagt er. Seine fast 40 Händler haben ihre Stände u-förmig um den neu gestalteten Platz aufgebaut. Die Wasserfontäne in der Mitte, wo früher der Markt stattgefunden hat, funktioniert aber nicht – eine Fehlkonstruktion. Szlapka sagt: „Die Leute, die ein bisschen Geld haben, sind aus dem Viertel längst verschwunden.“

Berliner Zeitung, 17.06.2011