Moralinsauer oder heiter: Filme des Festivals in Venedig: Effektvolles Zittern der gelifteten Lippe

Wo ist eigentlich das Meer geblieben? Noch vor wenigen Jahren konnte man den Blick nach Verlassen des Kinos über die Adria gleiten lassen. Mittlerweile wird die schöne Aussicht aber von den Zelten, Ständen und Stellwänden der Sponsoren des venezianischen Filmfestivals verdeckt. Plötzlich muss man Juwelierkollektionen bewundern und neue klobige Automodelle, die von finster dreinblickenden Männern in schwarzen Anzügen bewacht werden.Am Abend wird der Star zum Werbeeffekt, wenn er aus eben jenen Automodellen steigt und zum roten Teppich schreitet. Das massive Auftreten der Sponsoren bringt auf dem Lido auch das neue Spiel des heiteren Star-Ratens mit sich. Es braucht einige Zeit bis man Penélope Cruz auf dem Plakat eines bekannten Kosmetikherstellers erkennt. Photoshop oder Lifting?Dass auch Kim Basinger an ihren Lippen herumschnippeln ließ, zeigt uns die Kamera in dem amerikanischen Wettbewerbsbeitrag "The Burning Plain". Es ist ein Anblick, der nicht unbedingt zum Milieu ihrer Rolle passt, aber einen seltsamen Effekt hervorbringt. Basinger spielt eine amerikanische Hausfrau und Mutter, die in einem kleinen Haus am Rande der Wüste von Neu Mexiko lebt. Mit einem Mexikaner hat sie eine leidenschaftliche Affäre, für die sie jedoch bitter bezahlen muss. Schon vom ersten Bild umgibt diese Frau eine Trauer, eine tiefe Erschütterung, und die gelifteten, fast unmerklich zitternden Lippen, verstärken diesen Eindruck."The Burning Plain" ist die erste Regiearbeit von Guillermo Arriaga, der mit Filmen wie "Babel" und "21 Gramm" zu einem der begehrtesten Drehbuchautoren der Welt wurde. Arriaga ist ein Meister des virtuos verschachtelten Erzählens, der parallel geführten Handlungen und sich spiegelnden Figuren. Nach und nach begreift man in "The Burning Plain", dass Basingers Figur eng verknüpft ist mit dem neurotischen Verhalten einer von Charlize Theron gespielten jungen Frau. Die Verzweiflung der Älteren ist auf die Tochter übergegangen. Doch das konfliktreiche Verhältnis wird auf fast schon penetrante Weise bis ins letzte psychologische Detail erklärt. Arriaga nimmt den Figuren jedes Eigenleben und reduziert sie auf große Leidende. Mit aller Kraft zwingt er seine durch Schuld und Schicksal verbundenen Figuren in ein moralinsaures Ende von Vergebung und Erlösung. Im Schlussbild darf Charlize Theron sogar einmal Lächeln.Immer wieder verließ man das Kino bei der diesjährigen Mostra Internationale del Arte Cinematografica mit einer Mischung aus Betretenheit und Verärgerung. Weil vielen der Regisseure der Zugriff auf ihren Stoff fehlt, wirken ihre Figuren alleingelassen und manchmal auch ausgestellt. Etwa im französischen Wettbewerbsbeitrag "L'autre". Um von der Lebenskrise einer Frau um die fünfzig zu erzählen, zwängt das Regie-Duo Patrick Mario Bernard und Pierre Trividic seine Hauptdarstellerin Dominique Blanc in einen engen Ledermantel und setzt ihr eine unvorteilhafte blonde Perücke auf. Mit tragisch offenem Mund schaut sie ihrem farbigen Liebhaber nach, wird später ihr Spiegelbild betrachten, um sodann ihren Kopf mit einem Hammer zu bearbeiten. Nicht das Leben, sondern die wahllose Aneinanderreihung effektverliebter Bilder demütigt diese Frau.Yu Lik-wai will in seinem Wettbewerbsfilm "Plastic City" vom Überlebenskampf in einem brasilianischen Slum erzählen, von Bandenkriegen und Emigrantenschicksalen. Doch lässt sich eine Handkamera, die meint, mit bloßem Wackeln schon Authentizität zu erzeugen, schon lange nicht mehr ertragen. Auch wird eine behäbige Geschichte durch schnelle Schnitte keineswegs schneller.Aber zum Glück gibt es noch Regisseure, die für ihre Figuren eigene Universen erschaffen. Regisseure wie Takeshi Kitano. Der Japaner verfolgt in "Achilles und die Schildkröte" über Jahrzehnte die Geschichte eines Mannes, der als Maler Karriere machen möchte. Dieser Film mag als episches Melodram angelegt sein. Ständig sterben Menschen, der Held wird als Waise groß und lebt später eine ärmliche Existenz als gescheiterter Künstler. Doch wieder einmal erweist sich Kitano als Schelm. Mit kleinen Gaga-Gastauftritten unterwandert er die Tragik seines Stoffes. Zwischendurch bedecken farbenfrohe Kleckse die gesamte Kinoleinwand. Man könnte "Achilles und die Schildkröte" Film als leidenschaftliche Hommage an einen obsessiven Künstler verstehen. Aber vielleicht hat Kitano auch nur eine Hommage an sich selbst gedreht. Jedenfalls macht er keinen Hehl daraus, dass der Film in erster Linie dazu dient, seine eigenen fröhlichen Gemälde ausführlich in Szene zu setzen.------------------------------Eine Hand- kamera, die meint, mit bloßem Wackeln schon Authentizität zu erzeugen, lässt sich schon lange nicht mehr ertragen.