Nach den Anschlägen in Nigeria: Ohnmacht gegen die Boko-Haram-Kämpfer
Wenn es noch einen Zweifel gab, wurde er am Dienstag vollends durch ein Attentat ausgeräumt: Ein verheerender doppelter Bombenanschlag in der nigerianischen Provinzhauptstadt Jos kostete mindestens 200 Menschen das Leben. Damit wurde offenbar, dass die Sicherheitskräfte des Landes nicht in der Lage sind, die islamistische Boko-Haram-Sekte unschädlich zu machen. Dabei ist Jos sogar eine Garnisonstadt, in der eine Division der nigerianischen Streitkräfte stationiert ist – und dennoch konnten die Extremisten auch dort ungehindert zuschlagen.
Den Experten stellt sich die Frage, warum die 130.000 Soldaten der nigerianischen Streitkräfte die auf wenige tausend Kämpfer geschätzte Boko-Haram-Truppe nicht ausschalten können. Dabei hatte das Militär des westafrikanischen Staates nach erfolgreichen Friedenseinsätzen in Sierra Leone und Liberia einen ausgezeichneten Ruf. Außerdem wurde der Staat für einen Großteil seiner über 50-jährigen Geschichte von Militärchefs geführt, was die Vermutung nahelegt, dass die Generäle ihre Truppen im griff haben sollten.
Doch die Militärchefs pflegen die Streitkräfte eher schwach zu halten, da sie fürchten, von einem Gegen-Putsch wieder aus dem Amt vertrieben zu werden. In Nigeria kam noch hinzu, dass die Truppe bislang mit anderen Aufgaben fertig werden musste. Sie war entweder bei Friedensmissionen in Nachbarländern eingesetzt oder bei der Bekämpfung der Unruhen im Niger-Delta. Da waren jedoch eher die Fähigkeiten der Marine gefragt.
Zutiefst verunsicherte Soldaten
Der Kampf gegen die Boko-Haram-Sekte fordert andere Qualitäten, meint der französische Militärexperte Laurent Touchard. Gegen Terroristen und Attentäter, meint er, müssten hochmobile, mit Helikoptern ausgestattete Spezialeinheiten antreten. Doch das „Spezialoperations-Kommando der Nigerianischen Armee“ (Nasoc) wurde erst Anfang dieses Jahres gegründet, die ihm zugeordneten Rangers werden derzeit von US-Offizieren trainiert.
Die Folge dieses Versäumnisses ist eine tiefe Verunsicherung der nigerianischen Soldaten. Sie haben Angst, falsch bewaffnet und noch zu wenig unausgebildet mittrainiert zu sein – und so auf die hochmotivierten und oft im Ausland ausgebildeten islamistischen Kämpfer zu treffen. Im Konfliktfall gehen n dann die nervösen Soldaten meist mit äußerster Brutalität gegen die Kämpfer wie auch Zivilisten vor. Aus diesem Grund verweigert die Bevölkerung die Kooperation mit dem Militär und sympathisiert mit der Sekte.
Schwierige Kooperation
Auch im Fall der aus einer Schule entführten Mädchen soll diese Angst der Soldaten eine Rolle gespielt haben. Nach Informationen von Amnesty International hatte die Armee vier Stunden vor der Entführung der fast 300 Mädchen in dem Provinzort Chibok Informationen über die geplante Aktion bekommen. Aus Angst vor einem Hinterhalt jedoch seien die Soldaten aber nicht ausgerückt. Wenige Tage danach wurde dann der Bataillonschef in der Kaserne der Provinzhauptstadt Maiduguri von seinen Soldaten beschossen: Sie warfen dem Generalleutnant vor, sie unzureichend bewaffnet und schlecht bezahlt an „die Front“ zu schicken.
Miserable Ausrüstung und Bezahlung aber sind ein generelles Problem in der Armee. Das Verteidigungsbudget ist zwar mit etwa zehn Milliarden Dollar hoch, aber es gibt eine enorme Korruption. Viele Waffen der islamischen Extremisten sollen aus den Arsenalen der Streitkräfte stammen, sie wurden ihnen unter der Hand verkauft oder von Anhängern der Sekte unter den Soldaten überlassen.
Auch vor diesem Hintergrund fällt westlichen Militärs die Kooperation mit der nigerianischen Regierung und Armee schwer: Die Verletzung von Menschenrechten durch die Streitkräfte mache die Zusammenarbeit problematisch, sagte zum Beispiel Alice F riend, Afrika-Direktorin des Pentagon, bei einer Anhörung des US-Senats. US-Berater, die jüngst nach Nigeria entsandt wurden, um Aufklärungsflüge über dem Sambisa-Wald zu koordinieren, wissen nicht, wie viel geheimdienstlich relevante Informationen sie mit ihren afrikanischen Gegenübern guten Gewissens teilen können. Auch deshalb stehen die Chancen, Attentate zu verhindern oder die entführten Mädchen zu befreien, eher schlecht.