Nach einer Narkose finden viele Patienten nur schwer in die Realität zurück. Das ließe sich oft vermeiden: Zu viele Eichhörnchen
Noch während der 82-jährige Heinz Marx tief in der Narkose schlummerte, hatten die Ärzte seinen Sohn vorgewarnt. Es sei möglich, dass der alte Mann nach dem Aufwachen verwirrt sei. Man wisse nicht, wie schlimm sein Zustand sein werde oder wie lange er andauere. Dagegen unternehmen könne man nichts, irgendwann werde der Vater aber wieder klar im Kopf sein. Durchgangssyndrom nannten die Ärzte im nordrhein-westfälischen Kreiskrankenhaus die vorhergesagten Symptome.Für die Familie von Heinz Marx begann eine Belastungsprobe, die fast zwei Wochen dauerte. "Tagelang dämmerte er vor sich hin", erinnert sich sein Sohn. "Träume und Realität konnte er nicht mehr auseinander halten." Wenn er wach geworden sei, habe er sich die Schläuche aus den Armen gerissen - die Pfleger fixierten ihn daraufhin am Bett. Heinz Marx redete wirr durcheinander. "Auf einem Baum vor seinem Fenster sah er andauernd Eichhörnchen", erzählt sein Sohn. "Wir hatten Angst, dass er nie wieder klar im Kopf wird."Heinz Marx ist kein Einzelfall. "Fast jeder zweite Patient über sechzig entwickelt nach einer Operation ein Delir", sagt Claudia Spies, die Leiterin der Klinik für Anästhesiologie an den Standorten Mitte und Virchow-Klinikum der Berliner Charité. Bei den 18- bis 59-Jährigen sei statistisch etwa jeder Dritte betroffen; auf der Intensivstation sogar mehr als 80 Prozent. "Gesunde junge Menschen, die einen leichten Eingriff hinter sich haben, leiden nur selten an Bewusstseinsstörungen", sagt Finn Radtke, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Charité-Arbeitsgruppe Analgesie, Sedierung und Deliriumprävention. Nach schweren, komplizierten Operationen schnelle die Zahl jedoch in die Höhe und bei älteren Patienten löse bisweilen schon die Einlieferung ins Krankenhaus ein Delir aus.Die Zahlen stammen unter anderem aus einer groß angelegten europäische Studie, die vor zehn Jahren im Fachmagazin Lancet veröffentlicht wurden. Getan hat sich seither wenig. Auf dem Hauptstadtkongress für Anästhesiologie und Intensivtherapie, der heute in Berlin beginnt, sollen Delirien und kognitive Störungen nach einer Operation nun ein größeres Thema sein.Die Ursachen der Bewusstseinstrübungen sind nach wie vor kaum erforscht. Im Krankenhausalltag, sagt Claudia Spies, würden die Probleme meist ignoriert: "In kaum einer Klinik in Deutschland werden postoperative Delirien überwacht, geschweige denn entsprechend behandelt." Immerhin kümmerten sich immer mehr deutsche Krankenhäuser, darunter die Unikliniken in Heidelberg und Bonn, um Delirien auf der Intensivstation - wie es inzwischen auch von internationalen Fachgesellschaften empfohlen werde.Die Konsequenzen eines Delirs können verheerend sein. Bei vielen Patienten bilden sich die Bewusstseinsstörungen zwar zurück, bei einigen jedoch wird das Gehirn dauerhaft geschädigt. Fast jeder zehnte der über 60-Jährigen hat Claudia Spies zufolge noch drei Monate nach der Entlassung mit kognitiven Störungen zu kämpfen - sowie jeder zwanzigste Patient zwischen 18 und 59.Wie ausgeprägt die mentalen Defizite sind, ist von Patient zu Patient unterschiedlich. "Im schlimmsten Fall können sie sich nicht mehr konzentrieren, nicht mehr lesen oder finden nach dem Einkaufen ihr Auto nicht wieder", sagt Spies. Jüngere Menschen hätten dann große Schwierigkeiten, sich wieder ins Arbeitsleben zu integrieren. Ältere verlören oft ihre Selbstständigkeit und müssten in Pflegeheimen betreut werden. Es gibt zudem Hinweise darauf, dass betagte Patienten mit kognitiven Störungen häufiger an Demenzen erkrankten, und dass im Zeitraum von zwei Jahren nach dem Eingriff doppelt so viele Betroffene sterben wie Patienten gleichen Alters, die nach der Operation keine Bewusstseinsstörungen hatten.Heinz Marx hatte Glück. Er habe sich von seinem Delir wieder vollständig erholt, berichtet sein Sohn. Nur wenn sie über die vier Wochen im Krankenhaus sprächen, könne er nach wie vor nicht zwischen seinen damaligen Träumen und der Wirklichkeit unterscheiden.Für ein Delir müssen viele Risikofaktoren zusammenkommen. "Dazu zählen hohes Alter und Vorerkrankungen des Patienten: Diabetes etwa, Herzleiden oder Bluthochdruck", sagt Finn Radtke. Ein großes Risiko berge der Eingriff selbst, insbesondere komplizierte Operationen am Oberschenkelhals oder am offenen Herzen. Wenn Anästhesisten Schmerz- oder Narkosemittel falsch dosierten, der Patient zu viel Blut verliere oder nach der OP eine Infektion bekomme, steige die Gefahr eines Delirs weiter. Charité-Forscher haben zudem ermittelt, dass Patienten besonders gefährdet sind, wenn sie mehr als zwei Stunden vor der Operation nichts getrunken haben.Eine zentrale Rolle spielt offenbar der Wundschmerz während einer Operation. Sobald Patienten jedoch kontinuierlich Schmerzmittel erhielten, falle ihre Stressreaktion während des Eingriffs, gemessen an der Herzfrequenz, deutlich geringer aus, berichtet Radtke. Es wäre schon viel gewonnen, wenn Anästhesisten dies beachten würden.An der Charité ist die Diagnose und Behandlung von Delirien nach der Operation inzwischen Standard, aber beispielsweise auch an der Magdeburger Universitätsklinik und an der Johns Hopkins University in Baltimore. Noch im Aufwachraum gehen die Pfleger eine aus fünf Fragen bestehende Checkliste durch, um den geistigen Zustand der frisch Operierten abzuschätzen. Ist der Patient orientierungslos? Reißt er an seinen Kathetern oder versucht er, aus dem Bett zu steigen? Hat er Halluzinationen? Oder lässt er sich gar nicht richtig aufwecken? "Ist ein bestimmter Punktewert überschritten, alarmieren die Pfleger einen Arzt", berichtet Claudia Spies.Der Arzt verordne dem Patient Neuroleptika, in diesem Fall Medikamente, die in den Dopamin-Stoffwechsel des Gehirns eingreifen, und mit denen auch Halluzinationen und Wahnvorstellungen behandelt werden. An der Charité erhalten besonders gefährdete ältere Patienten die Arzneien im Rahmen einer Studie sogar präventiv drei Tage vor der Operation: "Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass wir die Anzahl und den Schweregrad von Delirien reduzieren können," sagt Spies.Ihr Kollege Finn Radtke entwickelt derzeit einen Test, mit dem sich leichte kognitive Störungen aufspüren lassen. Bei der Untersuchung lösen die Patienten nach der Operation mithilfe eines Touchscreens kleine Aufgaben: einfache Rechenübungen, Wahrnehmungstests, Bilderrätsel. Radtke: "So können wir erkennen, welche Bereiche geschädigt sind."Der Test kann auch zu Hause gemacht werden. Die Charité stellt ihn kostenlos zur Verfügung und bittet die Angehörigen von Operierten, Auffälligkeiten umgehend zu melden. Denn eines sei klar, sagt Spies: "Je später kognitive Störungen behandelt werden, desto schwerer sind sie in den Griff zu kriegen."------------------------------"Fast jeder zweite Patient über sechzig entwickelt nach einer Operation ein Delir." Claudia Spies, Klinik für Anästhesiologie, Charité Mitte/Virchow