Die Ampel-Koalition von Kanzler Olaf Scholz (SPD) will Bürgerinnen und Bürger angesichts steigender Preise mit einem dritten Unterstützungspaket in Höhe von mehr als 65 Milliarden Euro entlasten. „Deutschland steht zusammen in einer schwierigen Zeit. Wir werden als Land durch diese schwierige Zeit kommen“, sagte Scholz am Sonntag in Berlin bei der Vorstellung der Ergebnisse der Beratungen des Koalitionsausschusses. Die ersten beiden Entlastungspakete hatten zusammen einen Umfang von 30 Milliarden Euro.
Die Spitzen von SPD, Grünen und FDP hatten etwa 18 Stunden lang bis zum Sonntagmorgen über Details verhandelt. Neben Scholz nahmen unter anderem Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) an den Beratungen teil. Auch weitere Minister sowie die Spitzen der drei Bundestagsfraktionen und Parteien waren im Kanzleramt versammelt.
Scholz: „You’ll never walk alone“
Scholz betonte, mit den ersten beiden früher im Jahr beschlossenen Paketen komme man nun auf insgesamt 95 Milliarden Euro. Es gehe um sehr viel Geld, aber die Ausgaben seien notwendig. Zum Ziel der Entlastungen sagte er: „Es geht darum, unser Land sicher durch diese Krise zu führen.“ Viele Menschen machten sich derzeit Sorgen. „Wir nehmen alle diese Sorgen sehr, sehr ernst.“ Erneut betonte Scholz: „You’ll never walk alone, wir werden niemanden alleine lassen.“ Der Kanzler kündigte an, dass übermäßige Gewinne am Strommarkt abgeschöpft werden sollen. Er sprach von einer „großen und dramatischen Entlastung“ auf dem Strommarkt. „Die erste Aufgabe ist also, solche Zufallsgewinne zu nutzen zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger.“
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Im Beschlusspapier steht dazu: „Zudem werden auf europäischer Ebene Möglichkeiten der Abschöpfung von Zufallsgewinnen von Energieunternehmen diskutiert, die in der aktuellen Marktlage aufgrund des europäischen Strommarktdesigns deutlich über die üblichen Renditen hinausgehen. Dazu gehören insbesondere Erlös- bzw. Preisobergrenzen für besonders profitable Stromerzeuger.“
Scholz machte den russischen Präsidenten Wladimir Putin wegen dessen Angriffskriegs auf die Ukraine für die schwierige Lage auch in Deutschland verantwortlich. Der Krieg habe Folgen auch für Engpässe bei der Energieversorgung: „Putins Russland ist vertragsbrüchig geworden“, es erfülle seine Lieferverträge schon lange nicht mehr. Scholz ergänzte: „Russland ist kein zuverlässiger Energielieferant mehr.“ Der Kanzler äußerte sich zugleich zuversichtlich, dass man die schwierige Zeit überstehen werde: „Wir werden durch diesen Winter kommen“, sagte er.
Die wichtigsten Entscheidungen:
Entlastung für alle Einkommen
Die sogenannte Doppelbesteuerung bei der Rente soll nach dem Willen der Koalition bereits 2023 und damit zwei Jahre früher abgeschafft werden. Rentenbeiträge sollen damit vom kommenden Jahr an voll absetzbar sein. Zudem wird die Homeoffice-Pauschale entfristet, mit der jährlich bis zu 600 Euro von der Steuer abgesetzt werden können. Der Arbeitnehmerpauschbetrag wird um 200 auf 1200 Euro angehoben.
Entlastung für kleinere Einkommen
Geringverdiener sollen durch eine Entlastung bei den Sozialversicherungsbeiträgen unterstützt werden. Die entsprechende Einkommensgrenze soll bei sogenannten Midi-Jobs zum kommenden Jahr auf 2000 Euro angehoben werden. Sie liegt derzeit bei 1300 Euro, ab Oktober bei 1600 Euro.
Energiepauschale für Rentner und Studierende
Rentnerinnen und Rentner sollen zum 1. Dezember eine einmalige Energiepreispauschale von 300 Euro erhalten. Studierende und Auszubildende sollen einmalig 200 Euro erhalten. Für Berufstätige war bereits eine Energiepreispauschale von 300 Euro auf den Weg gebracht worden.
Ampel-Koalition will Strompreis für Basisverbrauch vergünstigen
Für einen gewissen Basisverbrauch an Strom soll nach dem Willen der Ampel-Koalition künftig ein vergünstigter Preis gelten. Für einen zusätzlichen Verbrauch darüber hinaus wäre der Preis nicht begrenzt.
Wohngeld
Wohngeld-Empfänger sollen für die anstehende Heizperiode einen einmaligen Zuschuss erhalten. Ein-Personen-Haushalte bekommen 415 Euro, Zwei-Personen-Haushalte 540 Euro. Für jede weitere Person sollen 100 Euro gezahlt werden. Ab 1. Januar 2023 sollen eine sogenannte Klimakomponente und Heizkostenpauschale im Zuge einer Wohngeld-Reform dauerhaft Bestandteil der Leistung sein. Zudem soll der Berechtigtenkreis ausgeweitet werden.
Neues bundesweites Nahverkehrsticket soll kommen
Die Ampel-Koalition will ein neues bundesweit gültiges Nahverkehrsticket schaffen. Ziel sei eine Preisspanne zwischen 49 und 69 Euro im Monat. Die Länder müssen der Finanzierung noch zustimmen.
Koalition will Regelsätze für Bedürftige erhöhen
Mit der geplanten Einführung des Bürgergelds Anfang kommenden Jahres wollen SPD, Grüne und FDP die Regelsätze für Bedürftige auf rund 500 Euro erhöhen. Heute erhalten Alleinstehende in der Grundsicherung 449 Euro pro Monat.
Koalition will Kindergeld um 18 Euro erhöhen
Die Ampelkoalition will Familien spürbar entlasten. So soll das Kindergeld deutlich steigen. Es soll zum Jahresbeginn um 18 Euro monatlich für das erste und zweite Kind steigen.
Schutz für Mieterinnen und Mieter
Kann jemand die hohen Preise für Gas und Strom nicht zahlen, sollen Sperren dennoch vermieden werden. Dem Papier zufolge das Energierecht angepasst werden, um Mieterinnen und Mieter vor dem Abschalten von Energie zu schützen.
„Strompreis-Deckel“
Die Koalition will die durch die nicht bei jedem Unternehmen gerechtfertigte Verbindung von Gas- und Strompreis entstehenden hohen Preise für Strom begrenzen beziehungsweise hohe Gewinne abschöpfen. Gelingen soll dies laut Papier mit einer Preisobergrenze für Strom von Erzeugern, die nicht auf Gas angewiesen sind. Das soll für niedrigere Preise sorgen.
Bleibt es bei hohen sogenannten Zufallsgewinnen, sollen diese abgeschöpft werden. Die Einnahmen sollen zudem dafür sorgen, dass Privathaushalte einen „Basisverbrauch“ an Strom zu einem vergünstigten Preis bekommen. Um den Strompreis möglichst niedrig zu halten, wird zudem die zum 1. Januar 2023 geplante Erhöhung des CO2-Preises, der die Klimakosten von Energienutzung widerspiegeln soll, um ein Jahr verschoben.
Was bisher zur Entlastung beschlossen wurde
Bisher wurde bereits der Strompreiszuschlag zur Förderung erneuerbarer Energien (EEG-Umlage) abgeschafft, es gibt eine Energiepauschale von 300 Euro für alle Beschäftigten und eine Einmalzahlung von 100 bis 200 Euro für alle Arbeitslosen, das Kindergeld wurde einmalig um 100 Euro pro Kind aufgestockt, drei Monate lang bis August wurde der Spritpreis gestützt, und es gab für die Monate Juni, Juli und August das 9-Euro-Ticket im öffentlichen Nahverkehr.
Lindner: Neue Entlastungen ohne weitere Aussetzung der Schuldenbremse
Das vereinbarte dritte Entlastungspaket ist nach Angaben von Finanzminister Christian Lindner ohne eine weitere Aussetzung der Schuldenbremse finanzierbar. „Diese Maßnahmen finden statt innerhalb der bisherigen Haushaltsplanungen der Bundesregierung“, sagte der FDP-Chef am Sonntag in Berlin bei der Vorstellung der Ergebnisse des Koalitionsausschusses von SPD, Grünen und FDP. Die Schuldenbremse setzt der Neuverschuldung des Bundes enge Grenzen.
Möglich sei dies unter anderem durch Vorsorge, die schon im Haushalt getroffen worden sei, sagte Lindner. Auch kämen an anderer Stelle Einnahmen hinzu. Die 65 Milliarden Euro vom Bund für das dritte Entlastungspaket stellten eine konservative Schätzung dar. Es handle sich um ein Paket, das Solidarität mit Leistungsgerechtigkeit und Solidität verbinde.
Man habe gut 22 Stunden lang verhandelt, sagte Lindner. Erreicht worden sei ein Paket, „von dem man durchaus sagen kann, dass es wuchtig ist“. Grünen-Chef Omid Nouripour bilanzierte: „Wir sind erschöpft, als Grüne, aber ich glaube, (es) geht nicht nur uns so.“ Er sagte: „Alle mussten einen weiten Weg gehen für einen großen Sprung.“
Buschmann: Entlastungspaket ist ein „sehr gutes Ergebnis“
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) schrieb am Sonntagmorgen auf Twitter, es sei „vollbracht“. Die seit Samstagmittag im Kanzleramt tagenden Spitzenvertreter von SPD, Grünen und FDP hätten ein „sehr gutes Ergebnis“ erzielt.
Es ist vollbracht.
— Marco Buschmann (@MarcoBuschmann) September 4, 2022
Sehr gutes Ergebnis.
Mehr Details ab 11 Uhr in der Pressekonferenz. #Koalitionsausschuss #Entlastungspaket
Die Verhandlungen hatten am Samstagmittag begonnen. Geplant war ein Paket mit zielgenauen Entlastungen, die die drastischen Preissteigerungen im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ausgleichen sollen. Dem Spitzentreffen waren wochenlange Diskussionen vorangegangen. Neben Scholz hatten unter anderem Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) an den Verhandlungen teilgenommen. Auch weitere Minister sowie die Spitzen der drei Bundestagsfraktionen und Parteien waren im Kanzleramt versammelt.
Hilfen für Rentner, Steuersenkungen, 9-Euro-Ticket-Nachfolge
Der Druck auf die Koalitionäre war vor der Entscheidung immer weiter gewachsen. Sie hatten die Erwartungen auch selbst hochgeschraubt. So hatten Lindner und SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich von einem „wuchtigen Paket“ gesprochen. Scholz hatte bei einer Kabinettsklausur Mitte der Woche ein „möglichst maßgeschneidertes, möglichst effizientes, möglichst zielgenaues Entlastungspaket“ angekündigt. Scholz hatte bei der Klausur in Meseberg bei Berlin gesagt: „Wir arbeiten am großen Bauwerk, und die Architektur dieses Bauwerks hängt eben von allen Einzelteilen ab, die aber nur zusammen eine gute Konstruktion ergeben.“
Gewerkschaften, Linke und AfD wollen nach eigenen Angaben unzufriedene Menschen möglicherweise zu Protesten im Herbst aufrufen. Der IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Es geht um nicht weniger als die Frage, ob es gelingt, die Bürgerinnen und Bürger wirksam und nachvollziehbar zu entlasten, oder ob die wachsende Unsicherheit zu einem Bruch des gesellschaftlichen Zusammenhalts führt.“
