Telefonate von russischen Soldaten ausgewertet: „Töte sie alle, Du hast meinen Segen“
Telefongespräche mit russischen Soldaten an der Front geben Einblicke in den Kriegsalltag in der Ukraine. Und sie zeigen, wie Russlands Kriegspropaganda verfängt.

Ein Jahr nachdem Russlands Präsident Wladimir Putin den Befehl zum Einmarsch in die Ukraine gegeben hat, sterben Berichten zufolge immer noch hunderte Soldaten täglich in dem völkerrechtswidrig überfallenen Land – auf beiden Seiten. Eine Auswertung abgefangener Heimatanrufe russischer Soldaten zeigt nun, wie diese den Alltag an der Front, das Töten und die mutmaßlichen Kriegsverbrechen in der Ukraine erleben.
Viele der jungen Soldaten seien gänzlich unvorbereitet auf das Ausmaß des von Putin begonnenen Krieges gewesen, heißt es in dem am Donnerstag von der Nachrichtenagentur AP veröffentlichten Bericht. Sie hätten Geld gebraucht, seien in letzter Minute eingezogen worden. In den heimlichen Telefonaten mit in Russland zurückgelassenen Müttern, Freundinnen und Ehefrauen erzählen die Männer von ihrer Angst, vom Plündern in eroberten ukrainischen Städten und der Folter gefangenengenommener Zivilisten.
Russischer Soldat: „Unterscheide ich mich von ihnen? Nein, tue ich nicht“
Leonid, zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt, berichtet in einem der aufgezeichneten Anrufe von seinem ersten Gefecht in der Ukraine, kurz nach dem 24. Februar. „Es lagen überall Leichen herum und brannten. Also, wir haben gewonnen.“ Seine Mutter reagiert entsetzt. Sie habe nie erwartet, so heißt es in dem Bericht, dass die in Russland vor allem von Staatsmedien überschwänglich propagierte „militärische Spezialoperation“ je dieses Ausmaß erreichen würde. Dass ihr Kind in den Krieg ziehen würde.
„Was für ein Albtraum! In dem Moment wolltest du einfach überleben, stimmt's Schatz?“, fragt sie in dem Telefonat. „Mehr denn je!“, antwortet Leonid, denkt aber auch an die getöteten ukrainischen Soldaten. „Sie haben da gelegen, gerade 18 oder 19 Jahre alt. Unterscheide ich mich von ihnen? Nein, das tue ich nicht.“
Später steckt Leonids Einheit in der nähe der ukrainischen Stadt Butscha fest. Dort sollen russische Streitkräfte zahllose Kriegsverbrechen begangen haben. In einem Bericht der Organisation Human Rights Watch ist von hunderten ermordeten und zu Tode gefolterten Zivilisten die Rede.
„Es gab einen Gefangenen, ein 18-jähriger Typ“, berichtet Leonid dem Bericht zufolge seiner Mutter am Telefon. Inzwischen sei man stets auf der Hut, auch vor Zivilisten. Aus Russland habe es geheißen: Jeder, der Widerstand leistet, ist ein Faschist, ein Aufrührer. „Zuerst wurde ihm ins Bein geschossen“, erzählt er demnach weiter. „Dann wurden ihm die Ohren abgeschnitten. Danach hat er alles zugegeben, und sie haben ihn umgebracht.“ Man sperre niemanden ein. „Das heißt, wir bringen sie alle um.“
Ukraine-Krieg: Putin und die Erzählung von der „Entnazifizierung“
Was die rund 2000 ausgewerteten Anrufe offenbar auch zeigen, sind die Auswirkungen russischer Kriegspropaganda auf die Soldaten an der Front. Erst am Dienstag hat Kreml-Chef Putin in seiner Rede zur Lage der Nation die Behauptung wiederholt, in der Ukraine sei ein „Neonazi-Regime“ an der Macht – Russland handle in dem inzwischen ein Jahr andauernden Angriffskrieg als Befreier.
Im Gegensatz zu Leonid zweifeln Ivan und seine Mutter nicht daran, dass es sich bei dem Überfall auf das Nachbarland um einen gerechtfertigten Befreiungskrieg handelt. Es finde ein Genozid an der russischen Bevölkerung statt. „Wahrscheinlich bleiben wir hier, bis sie die ganze Ukraine gesäubert haben“, sagt Ivan am Telefon. Man werde erst dann in die Heimat zurückkehren, „wenn all diese Schädlinge beseitigt wurden“. Seine Mutter sagt, wenn sie könnte, würde sie selbst in die Ukraine gehen. „Töte sie alle. Du hast meinen Segen.“
Im Juli vergangenen Jahres sei Ivan dem Bericht zufolge im Krieg gefallen. Nach Schätzungen des britischen Außenministeriums liegt die Zahl der getöteten russischen Soldaten inzwischen bei bis zu 60.000. Laut US-Militärexperten könnte die Dunkelziffer drei mal so hoch sein. Auf Seiten der Ukraine ist von bis zu 100.000 getöteten und verwundeten Soldaten die Rede.
