Brandbrief gegen Berliner SPD-Chef Raed Saleh
Über den Führungsstil von SPD-Chef Raed Saleh gibt es wieder Beschwerden. Der Spandauer Bezirkspolitiker Jens Hofmann macht sich jetzt in einem offenen Brief Luft.

Der Führungsstil des Berliner SPD-Chefs Raed Saleh steht erneut in der Kritik. Der immer widerkehrende Vorwurf derer, die sich über ihn beklagen: Gegen politische Widersacher gehe Saleh in der eigenen Partei kompromisslos vor, mobbe sie sogar. Nur seine Gefolgsleute hätten unter ihm eine Chance. Ein Diskurs finde nicht statt.
Bereits Ende 2017 machten SPD-Politiker im Berliner Abgeordnetenhaus mobil gegen Raed Saleh, den eigenen Fraktionschef. Sie schrieben einen offenen Brief, beschwerten sich bei ihm und über ihn. Über vier Jahre später folgt jetzt der nächste Brief in ähnlicher Tonalität. Geschrieben hat ihn der SPD-Bezirksverordnete Jens Hofmann aus Spandau, Salehs Heimatbezirk. Hofmann hat die BVV inzwischen verlassen.
Raed Saleh sagte auf Anfrage der Berliner Zeitung zu dem unten veröffentlichen Brief: „Das ehemalige Fraktionsmitglied hat sich für politische Wahlfunktionen ins Spiel gebracht und konnte nicht berücksichtigt werden. Ich nehme die persönliche Enttäuschung zur Kenntnis.“
Der offene Brief gegen Raed Saleh im Wortlaut
Liebe Genossinnen und Genossen!
Am 23. Mai 2022 habe ich die SPD-Fraktion der Bezirksverordnetenversammlung in Spandau verlassen. Aus Anstand habe ich nicht die Öffentlichkeit gesucht, stelle aber zunehmend fest, dass ohne eine Erklärung meines Schrittes Spekulationen zu falschen Erklärungsansätzen führen und Sachverhalte am Ende völlig verdreht dargestellt werden. Daher möchte ich meine Kritik nun doch öffentlich erklären.
Die SPD-Fraktion der BVV hat es nach den Wahlen im September 2021 nicht geschafft, sich zu finden. Es gab nicht einmal eine Veranstaltung, bei der sich die alten und neuen Fraktionäre hätten kennenlernen können. Die personelle Besetzung von Funktionen wie Ausschussvorsitzenden oder Sprecherinnen und Sprechern zu den einzelnen Ausschussthemen fand nach Entscheidung von Raed Saleh und seiner rechten Hand für Spandau, Susanne Pape, statt, die bei allen Sitzungen des Fraktionsvorstandes anwesend war. Ich habe im Dezember 2021 transparente Prozesse gefordert und versucht, die Fraktion dazu zu bewegen, thematische Schwerpunkte für die Legislatur zu setzen und ein eigenes Bewusstsein als Fraktion zu erlangen. Das war mir leider nicht möglich. Raed Saleh und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter haben das aktiv verhindert. Eine eigenständige Fraktion wäre hinderlich, um die eigenen Ziele durchzusetzen. Eine eigene Meinung ist nicht gefragt.
Die Missstände in der Fraktion sind nicht Ursache, sondern nur Symptom des Zustands. Dreh- und Angelpunkt ist Raed Saleh. Er hat in den letzten zwei Jahrzehnten ein Netz geknüpft, das mittlerweile nicht nur weit über Spandau hinausreicht, sondern geradezu mafiöse Strukturen aufweist und die innerparteiliche Demokratie unterläuft. Dass es mittlerweile bei keiner Wahl mehr Gegenkandiatinnen oder Gegenkandidaten gibt, ist ein weiteres Symptom dieses Mechanismus. Raed Saleh verfolgt kompromisslos ein Ziel: Er will Regierender Bürgermeister von Berlin werden. Franziska Giffey ist dabei lediglich sein Zugpferd. Sie wird früher oder später über einen Skandal stolpern. Es braucht nicht mehr viel: Doktortitel-Affäre und Ehemann-Debakel haben sie geschwächt, und das Wahlergebnis auf dem Landesparteitag hat gezeigt, dass ihr Zenit überschritten ist. Einzige Alternative für den Job als Regierender Bürgermeister wäre nach ihrem Rücktritt Raed Saleh. Das ist seine einzige Chance auf den Job, denn die Wählerinnen und Wähler würden der SPD mit ihm als Spitzenkandidat nicht die erforderlichen Stimmen geben, das ist auch ihm klar.
Ich bin 2012 nach Spandau gezogen und kenne die Vorgeschichte daher nur aus Erzählungen. In den letzten zehn Jahren habe ich mir ein eigenes Bild gemacht. Die Demontage von Bettina Domer in ihrem Ortsverein Hakenfelde habe ich live und in Farbe als Mitglied der Zählkommission miterlebt. Bei der Kreisdelegiertenversammlung, bei der Daniel Buchholz abgewählt wurde, war ich Delegierter. In allen Ortsvereinen und Kreisen gibt es Menschen mit Machtbewusstsein, die rhetorisch geschickt sind und sich in Spitzenpositionen „durchbeißen“ und dabei Konkurrentinnen und Konkurrenten beiseiteräumen. Angela Merkel soll es so gemacht haben, und Annalena Baerbock wird nachgesagt, dass sie geradezu bösartig sein kann, wenn es um ihre Karriere geht. Dieses Phänomen gibt es geschlechts- und altersunabhängig anscheinend in jeder Partei.
Dass ein Politiker wie Raed Saleh eine Partei allerdings so dominiert, Ämter häuft und personell so gründlich „aufräumt“, habe ich noch nirgends erlebt. Er schadet der innerparteilichen Demokratie zutiefst. Ich habe erlebt, dass besonders kluge Genossinnen und Genossen frustriert aufgegeben haben, weil sie konsequent bekämpft, ja geradezu gemobbt wurden. Als Grund für dieses Verhalten hat oft ausgereicht, Kritik an Raed Saleh zu üben. Kritik ist Majestätsbeleidigung.
Raed Saleh betont oft, wie geschlossen die Spandauer SPD hinter ihm steht. Nun ja: Er hat es geschafft, eine große Gruppe von meinungsschwachen Jasagern um sich zu scharen und Kritiker mundtot zu machen. Das bedeutet aber nicht, dass die Reihen hinter ihm geschlossen stehen, sondern dass die Partei quasi tot ist. Eine gute Diskussionskultur, politische Willensbildung und offene Kommunikation gibt es in Spandau nicht mehr. Wer die „Spandauisierung Berlins“ belächelt, der wird sich noch wundern. Dass politischer Nachwuchs in ein solches System von Abhängigkeiten hineinwächst, macht deutlich, wie nachhaltig die Schädigung der Partei ist und sein wird. Die Jusos in Spandau müssen erst wieder lernen, wie Demokratie funktioniert und dass sich nicht der durchsetzt, der sich am besten bei Raed Saleh anbiedert.
Raed Saleh hat das Talent eines windigen Autoverkäufers und er hat verstanden, dass er sich Mehrheiten bis in die kleinste Organisationseinheit sichern muss. Der Kreis Spandau ist dabei schon „befriedet“. Durch Torsten Schneider ist in Pankow und in der Abgeordnetenhausfraktion der gleiche Mechanismus etabliert worden und mittlerweile greift dieses System in ganz Berlin um sich. Und so wird ein desaströses Wahlergebnis beim Landesparteitag für Raed Saleh von seinen Kritikern schon als Erfolg bezeichnet. Eine Gegenkandidatur ist völlig unvorstellbar. Das zeigt, in welchem desolaten Zustand die SPD mittlerweile berlinweit ist.
Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt in einer Veröffentlichung zur innerparteilichen Demokratie: „Eine intensive Beteiligung der Mitglieder und Forderungen nach mehr Partizipation kollidieren potenziell mit dem Streben der Parteispitze nach einem geschlossenen Auftreten, die auch aus Gründen der Handlungsfähigkeit (Einflusslogik) und der Außenwahrnehmung (Erwartungen der Öffentlichkeit, Vermittlung durch die Massenmedien) als Notwendigkeit erscheint. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Tendenzen zur Abschottung der Parteiführung und zur Leitung der Partei durch professionelle Politiker, denen die einfachen Mitglieder folgen, festgestellt (Oligarchisierungstendenz). Im Kontrast dazu stehen Ansätze, die statt von einer alleinigen Leitung durch die obersten Parteigremien von einer Führung durch sich wandelnde Allianzen verschiedener Gruppen (Parteispitze, Parlamentsfraktion und ggf. Regierungsmitglieder der Partei) ausgehen. Daneben sind die weitgehend autonomen Landesverbände wichtige Akteure, wie auch weitere, z. B. an ideologischen Positionen orientierte, informelle oder formelle Zusammenschlüsse von Funktionsträgern. Dennoch müssen bei der Führung der Partei die Interessen und Motive der einfachen Mitglieder berücksichtigt werden (Mitgliedschaftslogik). Damit wird von einigen Beobachtern weniger eine Oligarchie als eine Stratarchie (ein gestuftes Herrschaftssystem, das eine Anzahl von innerparteilichen Gruppen und Personen umfasst) festgestellt, wenn nicht gar von Anarchie (mit der Konsequenz der nur sehr begrenzten Steuerbarkeit einer Partei) in Bezug auf innerparteiliche Strukturen gesprochen wird.“
Während die Bundes-SPD bis 2019 einen langwierigen Prozess durchlaufen hat, bei dem die parteiinterne Demokratie durch neue Mechanismen und Beteiligungsformate gestärkt wurde, ist in Berlin das Gegenteil passiert. Raed Saleh wurde immer weiter zum Oligarchen im Sinne der obigen bpb-Beschreibung.
In schwierigen Zeiten, in denen überteuerter Wohnraum, gestiegene Preise für Dinge des täglichen Bedarfs (einschließlich Energie) und die Folgen einer Pandemie die Menschen in unserem Land belasten, dürfen wir den Blick für unsere demokratischen Grundlagen nicht aus den Augen verlieren. Ich halte die innerparteiliche Entwicklung für brandgefährlich, nicht nur für die SPD, sondern für unsere gesamte Gesellschaft.
Ich wünsche der Berliner SPD, dass sie sich aus dem Klammergriff befreien kann und aus sich selbst heraus erneuert – mir ist allerdings schleierhaft, wer diese Mammutaufgabe auf welche Weise bewerkstelligen könnte, denn es ist niemand mehr da, der Raed Saleh etwas entgegensetzen könnte. Sein schlechtes Wahlergebnis auf dem Landesparteitag bedeutet daher nicht, dass er seinen Zenit überschritten hat, es spielt überhaupt keine Rolle für ihn. Ich würde mir eine Kommission auf Landesebene wünschen, die über die Statuten der SPD hinaus Regularien erarbeitet, die transparente Entscheidungsprozesse erzwingt, Ämterhäufung unterbindet und so die SPD vor dem Verfall schützt.
Für Fragen und Diskussionen stehe ich gerne jederzeit zur Verfügung.
Mit solidarischen Grüßen, Glück auf und Venceremos!
Jens Hofmann
