DDR-Nostalgie und SED-Diktatur: „Nein, eure Suppe esst ihr nicht!”

Sind NVA-Feldküchensuppe und Schulküchen-Soljanka eine Verharmlosung der SED-Diktatur? Unser Autor war Stasi-Häftling in Halle und Naumburg. Was sagt er zu den Vorwürfen der Bundesstiftung Aufarbeitung?

Gast-Autor Lutz Thümmel.
Gast-Autor Lutz Thümmel.Privat

„...Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur greift den Lebensmittelkonzern Rewe scharf an. Grund sind Essenskonserven...”

Vorgestern wurde ich auf diese Meldung  in der Berliner Zeitung aufmerksam und dachte im ersten Augenblick: „Gott, jetzt ist das Zeug als Konserven abgefüllt. Nicht totzukriegen, die Pampe.” Zeitgleich kamen aber auch andere Gedanken. Daran, wie es war, damals in der Schulkantine. In der es die Nudeln mit Tomatensoße und Jagdwurst oft gegeben hatte. In Ermangelung besserer Zutaten.

Aus Mangel an allem. Aber irgendwie musste man die Rasselbande ja satt bekommen. Wenngleich ich an Soljanka in der Schulküche keine Erinnerung habe. Aber meine Schulzeit war 1979 zu Ende. Vielleicht ergab sich danach eine Verbesserung der Versorgung in der Schulspeisung.

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Eigentlich war mein Gedankenausflug dann auch schon zu Ende. Er streifte noch die Symbolik. Bei der man trefflich streiten kann, ob sie notwendig, harmlos oder geschmacklos ist. Interessanterweise war das aber ein Nebengleis der ganzen Geschichte. Ich ertappte mich bei Neugier. Und klickte die Facebook-Seite der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur an. Auf der bereits viele Kommentare zu lesen waren. In interessantem Schlagabtausch. Und – durchaus bemerkenswert – eher positiv sachlich und etwas ostalgisch resilient.

Winterhilfswerksuppe mit einem kleinen Pimpf

Was mich erstaunte; gerade auf dieser Seite, die sich schließlich – so ihr Credo – der Aufarbeitung der SED-Diktatur verschrieben hat. Ergo sollten doch dort die Funken sprühen, schäumend ob der Geschichtsklitterung, die Hersteller dieser Konserven und Handelsunternehmen wissentlich betreiben. Aber, kaum etwas dergleichen.

Nun war sie da, die Neugier. Mittlerweile – der Artikel war einige Stunden im Netz – erschienen in meinem Kanal einige Beiträge, die sich auf ihn beriefen. In unterschiedlichem Tenor.

„REWE verharmlost die SED-Diktatur. Direktorin der Bundesstiftung Aufarbeitung beklagt Geschichtslosigkeit des Handelskonzerns...”

„Wäre – wenn es einen Markt dafür gibt – auch „Echte Winterhilfswerksuppe“ mit einem kleinen Pimpf auf dem Etikett okay?...”

„Sehnt sich das Volk den satanischen Sozialismus (erneut) herbei, wird es ihn bekommen...”

„Westdeutsche Logik und Verbotsstrategie“

Was ist mit Euch nicht in Ordnung? So, die ersten Gedanken beim Lesen dieser schäumenden Entrüstung. Dann aber, beim Weiterlesen tauchten auch andere auf:

„Ja, auch die Suppen hatten gefälligst schlecht zu sein.”

„Westdeutsche Logik und Verbotsstrategie, wen wundert's!”

„Mein Vorschlag: Alles verbieten. Irgendwas findet man schließlich immer.”

Geschrieben von Leuten, die in diesen Konserven eben das sahen, was sie sind; Konserven. Und in der aufgedruckten Bilderwelt halt die von damals. Mit der jeder etwas verbindet. Gutes, Schlechtes, Lautes, Leises, Schmerzhaftes und auch Einiges, das sich für immer in die Seele brannte. Dem nun aber eine solche Gewichtung geben? Diktatur, Unterdrückung, Mauertote, Stasi, Folter, Gefängnis, Mauer, Stacheldraht…wegen Nudeln in Tomatensoße?

West-Deutsche, die vieles nicht wissen, aber dafür alles besser

Mich überkam schnell ein ganz anderes Gefühl. Warum jetzt? Warum mit dieser Intention? Warum in dieser schwarz-weißen Dauerempörung? Weil sie en vogue ist? Aktuell und bei nahezu allem? Und man gefühlt – da schließt sich der Kreis der Wahrnehmung – keine Konservendose öffnen kann, ohne dass sie einem entgegenhüpft. Die Konserven gibt es bereits seit 2014. Und nicht nur bei REWE. Dass nun, nach acht Jahren, Mauertote und Diktatur verharmlost würden, ist reichlich kurz gesprungen. Warum jetzt? Warum kommt ausgerechnet im August 2022 die Bundesstiftung mit dieser Empörung ums Eck?

Ist da nicht mehr? Ist da nicht dieses selbstherrliche Aufschwingen über das Andere? Das per se als das Schlechte definiert wird? Das verboten gehört? Ist sie nicht auch dort zu erkennen, die allgegenwärtige Cancel Culture? Ein Bestimmen, was Gut ist und was Böse? Ein „Nein, eure Suppe esst ihr nicht! Weil wir das so festlegen“ ? Wie gegenwärtig für viele Besserwisser weiße Musiker keinen Reggae, keinen Rap, keine afrikanische Folklore zu spielen haben? Und – das kommt sicher bald – auch keinen Soul und keinen Blues. Weil das „kulturelle Aneignung“ sei. Dreadlocks werden nur Jamaikanern zugestanden. Bongos nur Afrikanern. Federschmuck nur Indianern; halt, das darf man ja auch nicht mehr sagen.

Ostalgie, Verklärung, Ewiggestriges und natürlich die AfD

Interessanter – jedoch auch nicht verwunderlich – war beim Lesen der vielen Kommentare, dass die Empörung fast ausschließlich von Personen kam, die im Westen geboren wurden und aufwuchsen. Die vieles nicht wissen, dafür aber alles besser. Je jünger diese Leute sind, desto größer die (Nicht-) Erfahrung. Und es die im Osten Geborenen, die das Ganze noch erlebten, deutlich entspannter sahen und sehen. Was – auch das verwundert nicht – sofort als Ostalgie, Verklärung und Ewiggestriges verwestlicht und rasch in AfD-Nähe geschoben wird. Weil das ja typisch ist für die im Osten. Egal, wo sie wohnen. Motto: Wenn man die Verharmlosung von Diktaturen nicht erkennen will, ist man auch empfänglich für Nazipropaganda.

Alles wegen Nudeln in Tomatensoße. In dieser immer akuter werdenden Selbstherrlichkeit, im Schwarz-Weiß-Denken, in gesellschaftlicher Spaltung, Cancel Culture, haltungsgetriebener Besserwisserei liegt die eigentliche Gefahr. Im „Ich-weiß-es-besser-weil-ich-besser-bin“. Ob man es wirklich besser weiß, spielt dabei immer weniger eine Rolle.

Ich wurde nicht von Symboliken sieben Monate in politische Haft genommen

„Kam bei Dir, als Du diese Konserven gesehen hast, nicht Groll hoch?“ fragte mich jemand auf Facebook. Nein, warum? Ich wurde nicht jahrelang von Symboliken bespitzelt, denunziert und drangsaliert. Und wurde nicht von ihr  sieben Monate in politische Haft genommen.

Es war ebendieses Aufschwingen zum Besseren. Es war das Niederdrücken der Meinung Anderer. Es war die moralische Überzeugung, zu den Besseren zu gehören weil man das so definierte. Dort fühlte man sich wohl. Wie schnell so etwas funktioniert, haben die Pandemiejahre gezeigt. Die seitdem entstandene gesellschaftliche Spaltung wird Jahre andauern. Sofern sie sich überhaupt wieder legt.

Betrachte ich nun das Bild der Konservendosen mit DDR-Sybolik, kommen Groll und auch etwas Empörung. Aber nicht auf den Hersteller oder die Handelsunternehmen, die das vertreiben oder die Leute, die es kaufen. Sondern die, die das anprangern. Und es am Liebsten verbieten würden. Weil sie es so wollen.

Nudeln in Tomatensoße sind Erinnerungen

Atmet durch, werdet gelassener, geht aufeinander zu. Und lasst Kunden, die diese Konserven kaufen, das um Himmelwillen machen. Sie machen es seit Jahren. Und werden es auch in Zukunft. Auch wenn die Bundesstiftung noch so laut Empörung heuchelt. Das von ihrer Seite in ganz anderen, wichtigeren, Bereichen passieren.

Nudeln in Tomatensoße sind Erinnerungen. Sie waren damals Pampe. Und sind es heute ebenso. Und wenn ein soßenverschmiertes Pioniermädchen auf die Dose gedruckt wird um als Kommunikationsverstärker zu dienen, steht drüber.

Vielleicht sagt sogar der Vorsitzende der Bundesstiftung, Rainer Eppelmann, den ich sehr  schätze, zur ersponnenen Querverbindung von Diktaturverherrlichung und Nudeln in Tomatensoße mit Jagdwurst:  „Verliert das Ziel nicht aus den Augen. Aber schießt auch nicht über es hinaus.”

Geboren 1962 in Zeitz, war Lutz Thümmel in der DDR Drucktechniker, Gestalter, Texter, „Staatlich geprüfter Schallplattenunterhalter“ (Discjockey), nonkonform, hatte über 50 internationale Briefpartner und somit auch zeitnah elf IM des Ministeriums für Staatssicherheit in seiner Nähe. 1986, nach siebenmonatiger Haft im politischen Zuchthaus in Halle und Naumburg, begann in Neumünster sein zweites Leben. Er war einige Jahre Reiseleiter und hat seit 28 Jahren eine eigene Werbeagentur in Bad Homburg. Daneben ist er Event- und Konzertfotograf.