Britischer Premier Boris Johnson tritt ab, bleibt aber bis zum Herbst im Amt

In einer Rede vor der Downing Street hat Johnson sein Rücktritt angekündigt. Sein Amt als Premier wird er wohl spätestens im Herbst abgeben. Noch auf den letzten Drücker beruft Johnson neue Minister ins Kabinett.

Der britische Premierminister Boris Johnson erklärt seinen Rücktritt als Vorsitzender der Konservativen Partei.
Der britische Premierminister Boris Johnson erklärt seinen Rücktritt als Vorsitzender der Konservativen Partei.Stefan Rousseau/PA Wire/dpa

Der britische Premierminister Boris Johnson tritt als Parteichef der britischen Konservativen zurück. Donnerstag gegen 13.30 Uhr wandte sich Johnson an die Nation und bestätigte in einer Rede seinen erwarteten Rücktritt, über den die BBC schon am Morgen unter Berufung auf Regierungskreise berichtet hatte. Damit wird er in Kürze auch sein Amt als Regierungschef los, wie die BBC am Donnerstag berichtete.

Für den Auslöser für seinen endgültigen Rücktritt nach mehrfachen politischen Skandalen während seiner Amtszeit, den Sex-Skandal um den Tory-Abgeordneten Chris Pincher, gab es in Johnsons Rede keine Entschuldigung. Er bedauere, dass er seine Parteikollegen nicht davon überzeugen könnte, ein Führungswechsel wäre jetzt „exzentrisch“.

Das „darwinistische“ System der Politik, wobei „niemand unersetzbar“ sei, so Johnson, werde aber jetzt seinen Nachfolger oder Nachfolgerin einsetzen. Dieser Prozess solle auch ab sofort beginnen; dabei bleibt Johnson aber in seiner Rolle als Regierungschef noch bis zum Herbst.

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Johnson sprach noch von seiner Traurigkeit, „den besten Job der Welt aufgeben zu müssen“. Die Rolle des Premierministers auszuüben sei ihm ein großer Privileg gewesen, wofür er sich beim britischen Volk bedankte. Seine Dienstreisen durch das ganze Land, und die „grenzenlose britische Originalität“, auf die er unterwegs gestoßen sei, sollen ihn davon überzeugt haben, das Land habe noch eine goldene Zukunft vor sich. Eine letzte Zusicherung hatte er auch für die Ukraine: Großbritannien werde immer noch den „Freiheitskampf“ des Landes unterstützen, so lange wie nötig.

Johnsons Nachfolger bzw. Nachfolgerin soll zum Parteitag der Torys im Oktober feststehen. Zahlreiche konservative Abgeordnete sprechen sich jedoch für eine unmittelbare Ablösung Johnsons an der Regierungsspitze aus. Als Übergangspremier kämen der Justizminister und Johnson-Vize Dominic Raab oder Außenministerin Liz Truss infrage. Sie brach Berichten zufolge am Donnerstag eine Reise nach Indonesien ab und begab sich auf die Rückreise nach London. Oppositionsführer Keir Starmer forderte einen radikaleren Weg: Er verlangte Neuwahlen in Großbritannien.

Finanzminister Zahawi an Johnson: „Gehen Sie jetzt!“

Premier Johnson war in den vergangenen Tagen massiv unter Druck geraten. Mehrere Kabinettsmitglieder waren zurückgetreten. Zuletzt hatte ihn sogar der erst am Dienstag ins Amt berufene Finanzminister Nadhim Zahawi öffentlich zum Rücktritt aufgefordert. „Premierminister, in Ihrem Herzen wissen sie, was das Richtige ist. Gehen Sie jetzt“, schrieb Zahawi in einem auf Twitter veröffentlichten Brief an Johnson.

Bildungsministerin Donelan tritt ab, Johnson beruft Nachfolger

Die neue britische Bildungsministerin Michelle Donelan trat am Donnertag nach nur zwei Tagen im Amt zurück. „Sie haben uns in eine unmögliche Lage gebracht“, schrieb Donelan in ihrem Rücktrittsschreiben an Johnson.

Die Reaktion des Noch-Premiers: Johnson beauftragte am Donnerstag seine langjährigen Vertrauten James Cleverly und Rit Malthouse mit der Leitung des Bildungsministeriums beziehungsweise der zentralen Regierungsbehörde Cabinet Office. Den früheren Wirtschaftsminister Greg Clark, einen Brexit-Gegner, ernannte er zum Minister für „Levelling Up“, also Angleichung der Lebensverhältnisse. Der ehemalige Justizminister Robert Buckland, den Johnson erst im September 2021 feuerte, ist nun Staatsminister für Wales. Weitere Ernennungen wurden erwartet.

Noch am Abend zuvor hatte ein enger Johnson-Vertrauter verkündet, der Premier werde nicht aufgeben und nicht abtreten. „Der Premierminister ist in einer optimistischen Stimmung und wird weiterkämpfen“, sagte Johnsons parlamentarischer Assistent James Duddridge dem Sender Sky News. Johnson habe bei der vergangenen Parlamentswahl das Mandat von 14 Millionen Wählern bekommen und „so viel zu tun für das Land“.

Sex-Skandal um Chris Pincher löste die Regierungskrise aus

Ausgelöst wurde die jüngste Regierungskrise in Westminster durch eine Affäre um Johnsons Parteikollegen Chris Pincher, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird. Zuvor war herausgekommen, dass Johnson von den Anschuldigungen gegen Pincher wusste, bevor er ihn in ein wichtiges Fraktionsamt hievte. Das hatte sein Sprecher zuvor jedoch mehrmals abgestritten. Auch der „Partygate“-Skandal um Corona-Partys am britischen Regierungssitz hatte zuletzt erheblich an Johnsons Ruf gekratzt.

Fast 60 Minister und andere Regierungsmitglieder waren seit Dienstagabend aus Protest gegen Johnson und dessen Amtsführung zurückgetreten. Dass nun auch Johnson selbst Konsequenzen für sich ziehe, sei eine „gute Nachricht“, hieß es am Donnerstag von der oppositionellen Labour-Partei. Jetzt sei es Zeit für einen „echten Regierungswechsel“.

Kreml hofft auf „professionellere Leute“ in britischer Regierung

Eine fast schadenfrohe Reaktion kam am Donnerstag von der russischen Regierung in Moskau: „Wir hoffen, dass eines Tages in Großbritannien professionellere Leute an die Macht kommen, die Entscheidungen im Dialog treffen können“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Derzeit gebe es jedoch „wenig Hoffnung darauf“.

Ex-Präsident Dmitri Medwedew schrieb am Donnerstag auf Telegram: „Die ‚besten Freunde der Ukraine‘ gehen. Der ‚Sieg‘ ist in Gefahr!“ Johnsons Abgang sei das „rechtmäßige Ergebnis britischer Unverfrorenheit und niveauloser Politik. Besonders auf internationalem Feld“, so Medwedew.

Boris Johnson hatte zuletzt mehrfach die von Russland angegriffene Ukraine besucht, Präsident Wolodymyr Selenskyj getroffen und umfassende Hilfen zugesagt.