In einem 141-Seiten langen, tagebuchartigen Bericht erzählt der ehemalige russische Soldat Pavel Filatiev vom Krieg in der Ukraine. Als Fallschirmjäger im 56. Luftwaffenregiment der russischen Armee war der 34-Jährige direkt an der von Präsident Putin befohlenen Invasion beteiligt. Was er in seiner Chronik beschreibt, könnte den Ex-Soldaten in seiner Heimat das Leben kosten. „Ich sehe in diesem Krieg keine Gerechtigkeit“, sagte er dem Guardian bei einem Treffen in Moskau. „Wir, die Russen, haben nicht das Gefühl, dass das, was wir tun, richtig ist.“
Von der Krim aus hatte Filatievs Einheit Ende Februar die ukrainische Grenze überschritten. Nach etwa einem Monat unter heftigem Artilleriebeschuss – verschanzt nahe der südukrainischen Stadt Mykolajiw – habe er schließlich gedacht: „Gott, wenn ich überlebe, dann werde ich alles in meiner Macht stehende tun, um das zu beenden.“
1/ A 34-year-old former Russian paratrooper, Pavel Filatyev, has published a remarkable in-depth account of his experiences of the Ukraine war. He served with the Feodosia-based 56th Guards Air Assault Regiment and fought in southern Ukraine for two months. A 🧵 follows. pic.twitter.com/upGQAejb12
— ChrisO (@ChrisO_wiki) August 17, 2022
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Filatiev: Wusste nicht, dass in Russland gar kein Krieg herrschte
Der Bericht Filatievs kann nicht unabhängig überprüft werden und beinhaltet in erster Linie die subjektiven Erfahrungen eines Soldaten in dem vom Kreml begonnenen Krieg. Dennoch kann er Aufschluss darüber geben, wie wenig viele russische Soldaten anscheinend über die politischen Entscheidungen ihres obersten Befehlshabers wussten, als dieser Anfang des Jahres die Anordnung zum Einmarsch in die Ukraine gab.
„Es dauerte Wochen, bis ich begriff, dass auf russischem Territorium gar kein Krieg herrschte, dass wir die Ukraine einfach so überfallen hatten“, heißt es in dem Bericht. Diesen veröffentlichte Filatiev vor etwa zwei Wochen auf der russischen Social-Media-Plattform VKontakte. Das Buch trägt den Titel „ZOV“ – eben jene Buchstaben, die in Russland zum Symbol für von staatlicher Propaganda angeheizten Kriegspatriotismus geworden sind.
Russische Streitkräfte „bis zum Äußersten gedrängt“
Zudem beschreibt Filatiev in seinen Aufzeichnungen eindringlich den von Angst, Hunger und Frust geprägten Alltag russischer Soldaten an der Front. Nach einem Monat im Freien, ohne Schutz, ohne Dusche, ohne richtige Nahrung, sei die Stimmung bei der Eroberung des Hafens von Cherson im Süden der Ukraine endgültig gekippt.
Bei den daraufhin erfolgten Plünderungen sei es den Soldaten neben Computern und Wertartikeln vor allem um Nahrungsmittel gegangen. „Wie Wilde verschlangen wir alles, was da war: Porridge, Marmelade, Honig, Kaffee“, erzählt Filatiev. „Wir scherten uns um nichts, waren wir doch schon bis zum Äußersten gedrängt worden.“ Auch hätten Gerüchte über Misshandlungen Gefangener unter den Soldaten die Runde gemacht – der mittlerweile im Exil befindliche Ex-Soldat habe nach eigenen Angaben davon jedoch nie etwas mitbekommen.
Russischer Ex-Soldat Filatiev ins Exil geflüchtet
Um dem Krieg irgendwie zu entkommen, schreibt Filatiev, hätten einige Kameraden begonnen, sich absichtlich zu verwunden. Er selbst sei verletzt und mit einer Augeninfektion von der Front nach Hause geschickt worden. Anschließend habe er sich über einen Monat Zeit genommen, das Erlebte aufzuschreiben.
Wie der Guardian berichtet, wurde der 34-Jährige kurz nach der Veröffentlichung seines Buchs von der Menschenrechtsorganisation Gulagu.net aus dem Land geschleust. Noch sei unklar, ob ihm in Russland Verbrechen zur Last gelegt werden. Allein das Wort „Krieg“ in Bezug auf Putins „militärische Spezialoperation“ zu verwenden, steht dort allerdings unter Strafe. Bei Filatievs Aufzeichnungen handelt es sich um den ersten ausführlichen Bericht eines an dem Überfall auf die Ukraine beteiligten russischen Soldaten.
